• 01.12.2002
  • Praxis

Sterbebegleitung bei Bewohnern mit Demenz, 1. Teil

Die Schwester Der Pfleger

Ausgabe 12/2002

In der Bundesrepublik Deutschland leben zirka 1,2 bis 1,4 Millionen Menschen mit einer chronisch degenerativen Hirnerkrankung, Tendenz steigend. In vielen Einrichtungen liegt die Zahl der demenziell erkrankten Bewohner mittlerweile bei 50 bis 60 Prozent - Menschen, die nicht nur im Pflegeheim leben, sondern meist auch hier sterben. Der folgende Beitrag
befasst sich mit dem Problemfeld der Sterbebegleitung bei diesem besonderen Klientel (1. Teil) und zeigt geeignete Interventionsmöglichkeiten für die stationäre Altenpflege auf (2. Teil).

Unsicherheit und Desorientierung
Haben Mitarbeiter der Pflege und des Sozialen Dienstes sowieso häufig ein Problem bezüglich der Themen "Tod, Sterben und Trauer", verstärkt sich das Unbehagen, wenn ein dementer Bewohner im Sterben liegt.
Fragen wie: "Was sage ich?", "Wie verhalte ich mich?" oder "Welche Bedürfnisse haben sterbende Demente?", machen diese Unsicherheit deutlich.

Becker und Meifort haben schon vor Jahren festgestellt, dass die Themenfelder "Sterbebegleitung" und "Umgang mit gerontopsychiatrisch veränderten alten Menschen" einen wesentlichen Bedarf an Fortbildung stellen (Becker und Meifort 1998). Die meisten Fachausbildungen und Fachschulen bereiten ihre Teilnehmer nur unzureichend auf dieses gemeinsame Aufgabenfeld vor. Hier beschränkt sich der Unterricht zum einen auf die Differentialdiagnostik einzelner Demenzformen, und zumanderen wird das längst ausgemusterte Sterbephasenmodell von Elisabeth Kübler-Ross chronisch reanimiert - trotz eklatanter methodischer Mängel in der Datengewinnung und -verarbeitung.
So stehen Pflegefachkräfte nicht selten orientierungslos vor dem sterbenden Dementen, da sie keine der genannten Sterbephasen wiedererkennen und die entsprechende Differentialdiagnostik keine Handlungsorientierung mitliefert.
Besonders katastrophal wird es für diese Mitarbeiter dann, wenn sie in Strukturen arbeiten müssen, in denen demente Menschen quer zur Ablauflogik und Ablaufoptimierung stehen und in denen Sterbende und Tote zu "Unberührbaren" mutieren, die nach dem Versterben - versteckt vor Mitbewohnern und Besuchern - still und heimlich aus dem Wohnbereich, unauffällig über den Hinterhof weggeschafft werden. Eine fahrlässig knappe Personaldecke erhöht die Unerträglichkeit der Situation noch um ein weiteres.

Bedürfnisse von orientierten sterbende Menschen
können nicht auf Demente übertragen werden

Fällt es Mitarbeiter schon schwer genug, mit orientierten Bewohnern über Tod und Sterben zu kommunizieren, wird es bei fortgeschrittener Demenz nahezu unmöglich. Besonders dann, wenn der neue Pflegeheimbewohner schon dement in die Einrichtung einzieht, und es so fast nicht mehr möglich ist, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Hier sind Angehörige häufig die einzige Brücke zur Biografie des alten Menschen. Sie liefern wichtige Informationen, die direkten Einfluss auf die Pflege- und Betreuungsinteraktionen im Wohnbereich haben.
Gibt es nur einen losen Kontakt zu den Angehörigen, kann häufig auf kein biografisches Material zurückgegriffen werden, und die Mitarbeiter handeln und entscheiden empathisch und intuitiv in der Situation, oder anders gewendet: Sterbebegleitung wird improvisiert.

Haben Untersuchungen, wie die von Kruse (1994) und Heller et al. (1999) deutlich gezeigt, welche Bedürfnislage bei sterbenden alten Menschen und respektive bei sterbenden Heimbewohnern vorliegen, kann nicht unmittelbar auf eine ähnliche Bedürfnislage bei dementen sterbenden Menschen geschlossen werden.

Hier fehlen oft Parameter für die Beobachtung des Befindenszustandes des Dementen. Auch kann subjektives Einschätzen der Situation und eigene Empfindungen der Begleiter diese ungeleitete Beobachtung beeinflussen und verzerren. Dem Begleiter ist auch nicht zugänglich, ob und wie der sterbende demente Mensch unter seiner Situation leidet. Oder noch genauer, ob der sterbende Demente seine Situation - wenn auch nicht bewusst - so doch vielleicht intuitiv erfassen kann.

Lebt der Demente in der Gegenwart, wird der Tod für ihn kein Thema sein, außer er (der nahe Tod) spielt schon in die Gegenwart hinein (vielleicht in Form von Schmerzen). Aber auch dann wird der Demente sich wohl nicht mit dem nahen Tod (als abstraktem Begriff oder als Sorge vor einem zukünftigen Geschehen beziehungsweise Zustand), sondern als aktuellem Schmerzempfinden auseinandersetzen und reagieren.
Es bleibt die Frage, ob der Demente dann gar keine Angst vor dem nahen Tod hat. Mit großer Wahrscheinlichkeit nicht!

Können wir im Umkehrschluss davon ausgehen, dass der demente Sterbende glücklich stirbt?
wird häufig gefragt.
Diese Frage lässt sich nicht beantworten. Wir können über die Erlebens- und Befindenswelt eines Dementen nur sehr oberflächliche Aussagen machen. Wir versuchen über Intuition, Kontemplation und Identifikation diese Lücke zu schließen. Damit beschreiten wir allerdings unseren eigenen Phantasiegarten. Das unmögliche Unterfangen, "sich auf die Lichtung des Dementen zu begeben", kann nur scheitern, da ich meine Welt und meinen Erfahrungshorizont nicht dement erlebe und somit eine Reaktion im Sinne von "ja, genauso habe ich es auch erlebt" (phänomenologisch also) nicht möglich ist.

Bedürfnisse des Dementen sind auf die Gegenwart bezogen
Die Angst vor dem Tod schließt immer auch ein, dass der Mensch versucht, sein "nicht mehr in der Welt sein" kognitiv zu erfassen. Gelingt dieses schon dem "Orientierten" nicht, wird es erst recht für den Dementen ein Problem sein.

Bedeutet das, dass der Demente auch keine Furcht vor dem Sterben hat?
Hier ist es wichtig abzuschätzen, wie weit die Demenz fortgeschritten ist. Wie weit kann der demente Mensch Ängste bezüglich seiner Sterbe- und Todesphantasien äußern? Und vor allem, was assoziiert er mit den Begriffen "Tod" und "Sterben"?
Sterben wird für den Dementen erst aktuell, wenn sein Soma (wenn es denn von ihm noch als zu sich gehörend erfasst wird) Funktionsstörungen produziert, die mit Existenzängsten einhergehen (z. B. durch Schmerzen, durch Verlegung der Darmpassage bei einem Ileus oder eventuell durch Dispnoe usw.).

Eventuell ergeben sich auch Anknüpfungspunkte zum Thema Sterben und Tod in Gesprächen mit dem Dementen, wenn er von dem Tod der Eltern oder des Ehepartners spricht. Selten finden wir jedoch "Sorgen vor dem eigenen Sterben" in den Gesprächen mit dem dementen Menschen. Obwohl der demente Heimbewohner häufig eine religiöse Praxis rituell nachvollziehen kann, erleben wir sehr selten, dass er von sich aus das Thema in Richtung "Gott" lenkt. Religiöse Themen oder jenseitige Orientierungen werden, da sie ja zukunftsorientiert sind und der Demente gegenwartsfixiert ist, nicht vom Dementen angesprochen.
Nichtsdestotrotz kann der Besuch eines Gottesdienstes oder einer Kirche sehr beruhigend, selbst auf schwerst demente Menschen, wirken.

Wir können mit großer Sicherheit darauf schließen, dass der alte demente Mensch, je nach Stadium der Demenz, noch folgende Bedürfnisse besitzt:
- Nahrung, Bewegung, Sexualität, Schmerzfreiheit, Ruhe, Wärme
- Sicherheit, Schutz, Orientierung
- Anerkennung, soziale Integration, Kontakt, Nähe, Distanz
- Zärtlichkeit, Aufgaben, Selbstverwirklichung (im Rahmen seiner entrückten Welt), Sinneswahrnehmungen.

Was immer wieder von Mitarbeitern geschildert wird, ist die Einschätzung, dass Demente sehr sensibel für die Stimmungslage des Begleiters sind, auch wenn keine Worte gefunden werden, das Empfinden auszudrücken. Dieser Ressource muss durch ein verändertes Kommunikationsverhalten von Seiten der Begleitperson entsprochen werden. Die Anteile der nonverbalen Kommunikation müssen hier bewusster eingesetzt werden.

Ein verändertes Kommunikationsverhalten durch den Begleiter kann dahingehend charakterisiert werden, dass
- langsam gesprochen wird,
- kurze Sätze gebildet werden,
- die Sätze häufiger wiederholt werden,
- Fremdworte vermieden werden,
- Blickkontakt beim Sprechen dem Begleiter zeigt, ob das Gesagte verstanden worden ist.

Es kann ebenfalls betont werden, dass die Wichtigkeit folgender Rahmenbedingungen der nonverbalen Kommunikation mit zunehmender Demenz steigt:
- Tonfall: Die Intonation der Stimme kann über den "Klang" deutlich machen, ob die Situation bedrohlich ist oder entspannt.
- Berührung/Nähe: Berührung ist kein "passpartout" für die Kommunikation mit Dementen. Zum einen geht es um die Eindeutigkeit der Berührung und, noch wichtiger, um die Bedeutung der Berührung, die der alte demente Mensch dieser zuordnet. Hier sollten biografische Informationen Auskunft darüber geben, welche Formen der Berührung der alte Mensch zu früheren Zeiten zugelassen hat.
- Eindeutigkeit der Situation.
- Eindeutigkeit der Gestik.
- Bekanntheitsgrad der Begleitpersonen.

Schmerzanamnese und -therapie ist bei Menschen mit Demenz erschwert
Der Zusammenhang von Schmerzäußerungen,Schmerzanamnese und -therapie bei Demenz ist noch wenig erforscht. Kann allgemein für Pflegeheimbewohner eine Unterversorgung mit einer angemessenen Analgetika-Therapie bei chronischen Schmerzzuständen konstatiert werden (Kunz 2001), liegen für demente Bewohner von Altenpflegeheimen keine vergleichbaren Zahlen vor.
Dies ergibt sich vor allem aus der Schwierigkeit der klaren Schmerzäußerungen. Selten haben wir Situationen, in denen demente Heimbewohner uns klare Signale geben können bezüglich:
- Rhythmik des Schmerzes
- Lokalisierung des Schmerzes
- Quantität und Qualität des Schmerzes.

Auch kann davon ausgegangen werden, dass die Schmerzwahrnehmung aufgrund der Demenz verändert ist. Dies lässt sich dadurch erklären, dass das Phänomen "Schmerz" einen großen, über lange Zeit erlernten Anteil aufzuweisen hat. Schmerz ist kein einfaches Reiz-Reaktions-Schema, sondern ein hochkomplexes und ausdifferenziertes Geflecht aus körperlichen, kulturellen, sozialen und psychischen Anteilen. Allein die Reaktion der sozialen Umwelt unserer frühesten Kindheit hat einen entscheidenden Einfluss darauf, wie wir Schmerz äußern, um soziale Reaktionen auslösen zu können (Weinen, Klagen, Rückzug wird mit Zuwendung, Zärtlichkeit und Schonung "belohnt"). Dies wiederum hat Einfluss auf die Wahrnehmung und Verarbeitung der gemachten Schmerzerfahrung.

Unter der Demenz gehen diese "gelernten" Reaktionen immer mehr verloren, so dass eine veränderte Schmerzwahrnehmung des Dementen schlüssig ist.
Ein Beispiel aus der Praxis kann diese sehr veränderte Wahrnehmung verdeutlichen:
Die Nachwache Thomas W. betritt in der Nacht ein Bewohnerzimmer und kann beobachten, wie eine demente Bewohnerin, nachdem ihr eine Mineralwasserflasche auf den Boden gefallen und diese in viele Scherben zersprungen ist, in eben diesen Scherben herumläuft, ohne Schmerzreaktionen zu zeigen. Ebenfalls vermagdie stark blutende Bewohnerin nicht, die Stelle mit den Scherben zu verlassen. Ihr Blick drückt Erstaunen aus, so, als wenn die von ihr gemachten "Wahrnehmungen" eine Beobachtung seien, die nichts mit ihr zu tun hätten.

Häufig erleben wir bei orientierten Bewohnern, dass der Sterbeprozess sich dahingehend ankündigt, dass der Bewohner über Schwäche, Abgeschlagenheit und ein allgemeines Krankheitsgefühl klagt. Diese "Ankündigung" erleben wir nicht bei dementen Bewohnern. Ein plötzliches Sterben des Dementen ist häufig die Folge.

Intensive Schmerzbeobachtung ist entscheidend
Deutlich soll an diesem Punkt werden, dass uns Begleitern häufig nicht eindeutig der Befindenszustand des Bewohners bekannt ist. Insbesondere gilt dies für Schmerzzustände. Mit zunehmender Demenz äußert sich der Bewohner immer weniger eindeutig über eventuelle Schmerzzustände. Hier kann nur eine intensive Beobachtung aller an der Pflege und Betreuung des dementen Sterbenden beteiligten Personen folgender Parameter einen Anhaltspunkt für einen vermuteten Schmerzzustand geben:
- Art, Umfang und Frequenz der Kontaktkontrolle (häufiges Rufen und Schellen)
- Aggressives Verhalten (gegenüber Personen oder Gegenständen)
- Atmung
- Schweißsekretion
- Muskeltonus (allgemein oder partiell)
- Verhalten in der Pflegesituation
- Psychosoziale Auswirkungen durch das Verhalten des Dementen (Rückzugstendenz)
- Unruhe
- Intonation der Stimme
- Gesichtsausdruck
- Schonhaltung.

Diese Merkmale sind strukturiert und interdisziplinär zu beobachten und zu dokumentieren, um gegebenenfalls nach einer zeitkontingenten Gabe von Analgetika zu evaluieren, wie sich diese Anhaltspunkte im Zeitverlauf verändern.
Ebenfalls macht es Sinn, früher gestellte Nebendiagnosen abzuklären (Kunz 2001), ob sie für einen vermuteten Schmerzzustand verantwortlich sein könnten.

Im zweiten Teil dieses Beitrags werden Interventionsmöglichkeiten für die Begleitung sterbender Dementer in der stationären Altenpflege dargestellt.


Literatur:
Becker, W.; Meifort, B.: Altenpflege - Abschied vom Lebensberuf, 1998
Bickel, H.; Jaeger, J.: Die Inanspruchnahme von Heimen im Alter. In: Zeitschrift für Gerontologie, Heft 19/1986, S. 30 ff.
Heller, A. et al.: Wenn nichts mehr zu machen ist, ist noch viel zu tun. Freiburg im Breisgau 1999
Kostrzewa, St.: Sterbebegleitung in der stationären Altenpflege, in: A+A, Heft 7/8, 1999, S. 11-16
Kostrzewa, St.; Kutzner, M.: Was wir noch tun können! Hans Huber Verlag, Bern 2002
Kruse, A.: Wie erleben ältere Menschen den herannahenden Tod? In: Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie und Senioren: Sterben und Sterbebegleitung. Ein interdisziplinäres Gespräch, Stuttgart Berlin Köln, 1994, S. 139-162
Kunz, R.: Palliative Care für kommunikationsunfähige (demente) Patienten, In: Die Hospiz-Zeitschrift, Heft 2, 2001, S. 12-14






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