Endlich kommt der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff. Das neue Begutachtungsverfahren, das zum 1. Januar startet, ist komplex, aber zielgenauer. Die Reform wurde möglich, auch weil es der Wirtschaft gut geht.
Wenn Politiker eigene Entscheidungen aus der Vergangenheit revidieren, dann sprechen sie in der Regel nicht offen darüber. Oft ist die Rede dann eher von einer „Weiterentwicklung", auch wenn inhaltlich eine Umkehr gemeint ist. Anders der CDU-Politiker und Beauftragte für die Belange der Pflege und Patienten der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann. Auf dem Kompetenztag Pflege des Verbandes der Privaten Krankenversicherung (PKV) geriet er in echten Redefluss und berichtete, wie es seinerzeit zur „Minutenpflege" kam und weshalb es so lange dauerte, bis die Politik sich nun zur Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs durchrang – Starttermin 1. Januar 2017.
„Minutenpflege" stand lange in der Kritik
Laumann war dabei, als 1994 die Soziale Pflegeversicherung (SPV) als fünfte Säule der Sozialversicherung in Deutschland eingeführt wurde. „Als wir die Pflegeversicherung ausgearbeitet haben, gab es noch keine Pflegewissenschaft", sagte er. Man habe schlicht überlegt, bei welchen Tätigkeiten die älteren Menschen Unterstützung bräuchten. Daher der Ansatz, der heute als defizitorientiert kritisiert wird. Laumann berichtete, dass je nach Umfang der nötigen Unterstützung eine höhere Pflegestufe mit einer entsprechend höheren Geldleistung hinterlegt war. Doch die Einteilung der Menschen war sehr willkürlich. „In einigen Regionen gab es nur die Pflegestufe 3, in anderen gab es diese fast überhaupt nicht."
Deshalb habe sich der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) entschlossen, ein schlichtes, aber objektiveres Verfahren einzuführen und sämtliche Tätigkeiten auf möglichst kleine Einheiten herunter-zubrechen. Geboren war die Minutenpflege. Festgelegt wurde etwa, wie lange es dauert, die Schnürsenkel zu binden. Kann der Pflegebedürftige dies nicht mehr selbst tun, wird die entsprechende Zeit veranschlagt. Dies gilt für sämtliche weitere relevanten Tätigkeiten. Am Ende werden die Minuten addiert und daraus eine Pflegestufe abgeleitet.
Viele Jahre wurde dieser Ansatz kritisiert. Doch warum handelte die Politik nicht? Laumann verwies auf die hohen Kosten. Die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs führt zu einer Leistungsausweitung der SPV von fünf Milliarden Euro. Der Beitragssatz steigt um 0,5 Prozentpunkte. „In den Jahren 2002 oder 2003 hätte man eine solche Beitragssatzerhöhung aus wirtschaftlichen Gründen nicht machen können", sagte er.
Zur Erinnerung: Zu diesem Zeitpunkt kämpfte Deutschland mit rund fünf Millionen Arbeitslosen. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder versuchte vergebens, den Beitragssatz für die Krankenkassen auf 13 Prozent zu senken. An eine Ausweitung des Sozialstaats war damals nicht zu denken.
„Keiner wird schlechter gestellt werden"
Doch heute, so Laumann, verkrafte die Wirtschaft höhere Beitragssätze. In weiten Teilen der Republik herrsche schließlich Vollbeschäftigung. „Eine florierende Wirtschaft ist wichtig, um gute Sozialpolitik zu machen", sagte Laumann. Sozialpolitiker wie er ergreifen deshalb die Chance, das schon lange vorliegende Konzept für die neue Begutachtung und Einstufung von Pflegebedürftigen umzusetzen.
Kernpunkt des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs: Aus den bisherigen drei Pflegestufen (plus Pflegestufe 0) werden fünf Pflegegrade. „Wir haben das Konzept an 40 000 Personen getestet. Ich bin zuversichtlich, dass das zusätzliche Geld den Demenzkranken zugute kommt. Für die anderen wird sich nichts ändern." Das steht im Vordergrund der Reform: geistig Beeinträchtigten ebenfalls Zugang zu den neuen Leistungen zu gewähren und dabei niemanden schlechter zu stellen. Deshalb hat der Gesetzgeber großzügige Überleitungsregeln verankert. Geld dafür ist angesichts der sprudelnden Beitragseinnahmen derzeit vorhanden.
„Keiner wird durch die Neubegutachtung schlechter gestellt werden", versicherte jüngst auch Wolfgang Rücker, Referatsleiter für Leistungsrecht in der Pflegeversicherung beim Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), im Rahmen eines Seminars des Medizinischen Dienstes des GKV-SV (MDS). Dort erklärte Dr. Barbara Gansweid, Ärztin und ehemalige Fachreferatsleiterin Pflegeversicherung beim MDK Westfalen-Lippe, die Kernpunkte der Pflegebedürftigkeit und die neue Begutachtung. Wichtig für Leistungen aus der SPV bleibt: Die Pflegebedürftigkeit muss von Dauer sein, voraussichtlich mindestens sechs Monate bestehen. „Neuer Maßstab ist der Grad der Selbstständigkeit und nicht mehr der Zeitaufwand des Hilfebedarfs." Die Minutenpflege wird damit Geschichte.
Wie sich die neuen Pflegegrade berechnen
Die Faktoren, die den bisherigen Pflegebedürftigkeitsbegriff prägten – Mobilität und Selbstversorgung (Körperpflege, Ernährung etc.) – fließen in die neue Begutachtung noch zu 50 Prozent ein. Den Rest prägen nun weitere vier Module mit unterschiedlicher Gewichtung: Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte (15 Prozent), kognitive und kommunikative Fähigkeiten oder – falls diese höher zu gewichten sind – Verhaltensweisen und psychische Problemlagen (zusammen 15 Prozent) sowie Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen (20 Prozent).
Jedes Modul ist in einzelne Fähigkeits-Tätigkeiten unterteilt. Im Modul 1 („Mobilität") sind dies beispielsweise „Positionswechsel im Bett", „Fortbewegen innerhalb der Wohnbereiche" oder „Treppensteigen". Der Begutachter kann dann pro „Fähigkeit" vier Noten vergeben, ob der Pflegebedürftige diese „selbstständig", „überwiegend selbstständig", „überwiegend unselbstständig" oder „unselbstständig" verrichten kann. Bei voller Selbstständigkeit gibt es keinen Punkt, dagegen drei bei voller Unselbstständigkeit. Innerhalb des Moduls werden die Punkte dann addiert. Im Modul 1 gäbe es maximal zehn Punkte. Im Modul 4 („Selbstversorgung") dagegen maximal 40 Punkte.
Dabei ist auch definiert, wann ein Patient eine Tätigkeit noch selbstständig verrichten kann und wann er unselbstständig ist.
- Selbstständig: Die Person kann die Aktivität in der Regel selbstständig durchführen.
- Überwiegend selbstständig: Die Person kann den größten Teil der Aktivität selbstständig durchführen. Sie benötigt nur wenig Unterstützung.
- Überwiegend unselbstständig: Die Person kann die Aktivität nur zu einem geringen Anteil selbstständig durchführen. Sie beteiligt sich noch immer an der Aktivität.
- Unselbstständig: Die Person kann die Aktivität in der Regel nicht durchführen beziehungsweise steuern, auch nicht teilweise. Es genügt nicht, wenn sich die Person ab und zu beteiligt, wenn sich die Pflegeperson nicht auf die Mitwirkung verlassen kann, dann gilt der Pflegebedürftige in dieser Aktivität als unselbstständig.
Je Modul werden die erreichten Punkte gewichtet, also in das Raster für die Beurteilung des Schweregrads der Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder Fähigkeiten eingeordnet. Diese sind analog zu den fünf Pflegegraden angeordnet. Im Modul 1 gäbe es für drei Punkte eine gewichtete Zahl von 2,5 Punkten. Die Summe der gewichteten Punkte aller Module wird anschließend addiert. Sie entscheidet dann, in welchen Pflegegrad eine Person eingestuft wird.
Je nach Pflegegrad gewährt die Pflegeversicherung dann unterschiedliche Leistungen. Entscheidend ist dabei die Frage, ob der Pflegebedürftige ambulant oder stationär gepflegt wird. In den unteren Pflegegraden sind die Leistungen für ambulante Pflege unterm Strich höher als für stationäre Leistungen. Deshalb ist auch eine Sonderstellung des Pflegegrades 1 verankert. Hier gibt es Leistungen für Personen, „die bisher keine Pflegeeinstufung erhalten haben und deren Beeinträchtigung der Selbstständigkeit oder Fähigkeiten gering sind", erklärte GKV-Vertreter Rücker. Das Ziel, so Rücker: Die Patienten sollen möglichst selbstständig in der gewohnten häuslichen Umgebung bleiben.
Der Pflegegrad 1 umfasse weniger Leistungen als andere Pflegegrade. Im Detail seien dies:
- Pflegeberatung,
- Beratung in der Häuslichkeit,
- Pflegekurse für Angehörige und ehrenamtliche Pflegepersonen,
- Wohngruppenzuschlag,
- Pflegehilfsmittel und Zuschlag für wohnumfeldverbessernde Maßnahmen,
- zusätzliche Betreuung und Aktivierung in stationären Einrichtungen,
- Entlastungsbetrag in Höhe von monatlich 125 Euro sowie
- Zuschuss in Höhe von 125 Euro bei Wahl der vollstationären Pflege.
Woher das Personal kommt, bleibt ungeklärt
Insbesondere die Gewährung von Sachmittelleistungen soll es ermöglichen, dass die Menschen länger zu Hause wohnen bleiben können. Laumann erklärte dafür auf dem Kompetenztag Pflege der PKV den Grund: In den kommenden 30 Jahren wachse die Zahl der Pflegebedürftigen pro Jahr um zwei bis drei Prozent. Das bedeute einen entsprechenden zusätzlichen Personalbedarf von 20 000 Fachkräften pro Jahr, wenn diese Menschen in die stationären Heime gehen. „Da können wir uns drehen und wenden wie ein Stück Speck in der Pfanne, so viele Leute werden wir nicht kriegen", stellte Laumann klar.
Seine größte Sorge bei der Konzeption der drei Pflegestärkungs-gesetze sei nicht zuvorderst die Finanzierung der Pflegeversicherung gewesen, sondern die Frage, wie angesichts des demografischen Wandels die Personalfrage geklärt werden könne. „Deswegen ist die häus-liche Familie so wichtig." Ihm sei aber auch klar: „Nur Familie, das funktioniert auch nicht." Stattdessen müssten alle Räder ineinandergreifen. Laumann sagt aber auch, die Pflegeversicherung werde heute so konzipiert, wie sie dem Bedarf entspreche. In der Zukunft könnten andere Präferenzen in der Bevölkerung dazu führen, dass Entscheidungen von heute revidiert werden.