Sehr geehrter Herr Gesundheitsminister,
wahrscheinlich bekommen Sie in Ihrer Position nahezu täglich solche Schreiben, dennoch möchte ich Ihnen ein paar Worte mitteilen, um mir meinen Frust einmal an der richtigen Stelle von der Seele reden zu können. Ich hoffe, dass dieser Brief Sie wirklich erreicht und nicht nur von einem Ihrer Mitarbeiter gelesen und dann in die nächste Ecke gelegt wird.
Zurzeit befinde ich mich in der Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin und werde diese Ausbildung nächstes Jahr mit dem Examen in Nordrhein-Westfalen abschließen. Mein Weg in die Pflege war etwas „umständlich", aber ich bereue ihn in keinem Moment. Die Dankbarkeit und die Freude der Patienten, die mir persönlich für meine Arbeit entgegengebracht wird, macht vieles nichtig und klein, aber eben nicht alles.
Bevor ich diese Ausbildung anfing, schloss ich einen Tag zuvor mein duales Studium bei der Landespolizei NRW mit dem „Bachelor of Arts" ab. Ich habe mich meinem Herzen folgend zu diesem Schritt entschlossen und muss Ihnen in dem Punkt zustimmen, dass eine Pflegekraft Empathie, Motivation und Begeisterung für den Beruf mitbringen sollte, um lange in diesem Beruf glücklich sein zu können und arbeiten zu wollen. Anders kann sie die Widrigkeiten, die dort auf sie warten und das Leid der Menschen nicht überstehen. Dieser Beruf erfordert viel Herzblut, Muße und Einsatz, damit man zu Dienstschluss mit einem ruhigen Gewissen nach Hause gehen kann und weiß, dass man alles richtig gemacht und alle Patienten ordentlich versorgt hat. Schließlich sind wir mit dem höchsten Gut der Menschheit betraut: der Gesundheit, der Würde und dem Leben eines jeden Patienten oder Bewohners.
Als wir im Unterricht über Ihre Eröffnungsrede zum diesjährigen Hauptstadtkongress in Berlin sprachen, waren wir uns im Kurs einig, dass Sie den Wert einer Pflegekraft verkennen und nicht richtig wertschätzen. Sie sind der Meinung, oben genannte Attribute reichen für eine gute Gesundheits- und Krankenpflegerin oder Altenpflegerin aus. Es ist mehr als das: Man muss flexibel sein, im medizinischen Handeln sicher sein, Wissen über anatomische Strukturen, Krankheiten und Wirkungsweisen von Medikamenten haben, um jeder Zeit eine Patientengefährdung ausschließen zu können. Meistens ist es eben das Pflegepersonal, welches in Notfallsituationen als erstes zugegen ist. Dafür muss eine entsprechende Grundlage vorhanden sein, auf die man im Laufe der Ausbildung aufbauen kann.
Nun frage ich Sie, ob Sie jemals einen tiefen Einblick in die Arbeit in einem Krankenhaus bekommen haben und wissen, wie dort der Ablauf ist, unter welchen Umständen die Pflegekräfte arbeiten müssen und wie hoch die Belastungen der Pflegekräfte sind, wie hoch die Verantwortung ist, die jeder von uns trägt? Haben Sie nur mal einen Frühdienst miterlebt, um Missstände aufdecken zu können und aus erster Hand erfahren, was eine Gesundheits- und Krankenpflegerin ausmacht?
Zeitweise ist man mit zwei examinierten Pflegekräften und eventuell einer Schülerin oder einem Schüler für bis zu 34 Patienten alleine verantwortlich, und davon sind dann auch noch eine nicht unerhebliche Anzahl von Patienten schwerstpflegebedürftig. Ich gehe davon aus, dass Sie in Ihrer Position wissen, was die Definition für schwerstpflegebedürftig ist. Und dann wundert sich ganz Deutschland, warum die Krankenschwestern überarbeitet und gestresst wirken. Warum sie manchmal genervt und unfreundlich scheinen, wenn ein junger, agiler Patient nach einer Wasserflasche klingelt, welche drei Meter von seinem Bett entfernt auf dem Tisch steht. Zudem gibt es Patienten, die ihren Krankenhausaufenthalt mit einem Hotelbesuch an der Costa Brava und das Pflegepersonal mit Hotelangestellten verwechseln. Und ich kann Ihnen sagen, dass es mehr als unangenehm und verachtend ist, wenn Patienten die grundpflegerische Versorgung als Freifahrtsschein ansehen, um sich sexuell aufkommende Bedürfnisse befriedigen zu lassen, obwohl sie lediglich eine Verletzung am Bein haben.
Sie aber, Herr Bahr, stellen sich ans Rednerpult und sind der Meinung, dass Pflegekräfte für die Entlastung der Ärzte sorgen sollen und dies unser Ansehen steigern soll. Mit Verlaub, aber das kann doch nicht Ihr Ernst sein!! Nur muss man dem Kind scheinbar einen neuen Namen geben und schon hat man Befürworter, so wie Sie es versuchen.
In Ihrer Eröffnungsrede ist die Sprache von den DRG, die nichts anderes als Fallzahlen sind. Weiterhin reden Sie davon, dass die Überprüfung des MDK ergebniszentriert ist und sich nicht mehr an der Struktur- und Prozessqualität orientieren soll. Aber wie kann man ein Ergebnis objektiv beurteilen wollen, wenn es schon am Prozess und an der Struktur hapert? Wenn Rahmenbedingungen eines Krankenhauses nicht stimmen, weil eben zu wenig Fachpersonal vorhanden ist, wie soll dann das Ergebnis gut sein, wenn es nicht zu Lasten der Mitarbeiter und Patienten gehen soll? Oder ist hier nur wichtig, dass die Fallzahlen stimmen und das Krankenhaus wirtschaftlich gut dasteht, der (Prozess-)Weg ist aber nebensächlich? Sie wollen an der Dokumentation einsparen, nur wie soll das aussehen? Die Dokumentation ist Grundlage aller Beurteilungen der Pflegestufen, Kostenabrechnungen und Überprüfungen. Sie bestimmt die Prozessqualität und ist das Instrument, womit sich die Pflege ihren Arbeitsplatz sichert.
Das Pflegepersonal ist überlastet, macht immer mehr Überstunden und dennoch soll es für die Entlastung der Ärzte sorgen?! Hier muss ich ganz entschieden widersprechen, da ich mich nicht als Befehlsempfänger oder als Bote der studierten Ärzteschaft sehe, sondern als gleich-berechtigtes Mitglied in einem interdisziplinären Team, welches nur ein Ziel im Fokus haben sollte: die optimale Versorgung des Patienten.
Wenn natürlich das oberste Gremium des deutschen Gesundheitssektors so denkt, kann ich nachvollziehen, warum die Gesellschaft folgende Ansichten vertritt: Pflegekräfte sind „unakademisch, ungebildet, unelitär und arm". Sie sind „(…) mit hoher Wahrscheinlichkeit entweder emotional abgestumpft wegen des ganzen Leids das ihr täglich begegnet - oder ein psychisches Wrack." Natürlich verrate ich Ihnen gerne, wo ich solche Aussagen gefunden habe: von einer führenden Singlebörse in Deutschland, welche in ihrem Forum die Umfrage startete, ob Krankenschwestern oder Krankenpfleger gute Partner sein können. Sie brauchen nur mal nach „Meinungen Krankenpflege" googlen.
In einer Umfrage, die ich im Rahmen der Ausbildung machte, bekam ich folgende Aussagen zu hören: „Ach, dafür braucht man eine Ausbildung?!" und: „Ich könnte das nicht, aber schön, dass es solche Leute gibt, die die Bettpfannen leeren und ‚Scheiße‘ wischen!" Und dies waren wörtliche Zitate von zufällig ausgewählten Passanten. Herzlichen Dank, aber aus dem Zeitalter sollten wir uns endlich verabschieden, in welchem man solch verstaubte Meinungen aufrecht halten kann. Ich muss mich meines Berufes nicht schämen, sondern der Ansichten, die durch die Politik und die Gesellschaft vertreten werden.
„Es ist ein wahrer Jammer zu sehen, welche Menschen man als Krankenwärter anstellt. Jede Alte, Versoffene, Triefäugige, Blinde, Taube, Lahme, Krumme, Abgelebte, jeder, der zu nichts in der Welt mehr taugt, ist nach Meinung der Leute zum Wärter gut genug. Menschen, die ein unehrliches Gewerbe getrieben haben, Faulenzer, Taugenichtse, alle die scheinen noch brauchbar als Krankenwärter. So ist denn dieser edle, schöne Beruf in Verruf gekommen." Selbst 1832 war man mit seinen Ansichten schon weiter, wie der Berliner Chirurg Johann Friedrich Dieffenbach wusste.
In dem ersten Zitat der führenden Singlebörse ist von „unelitär" und „arm" die Rede. „Unelitär" ist im Duden nicht vertreten und nicht Teil des deutschen Wortschatzes, dennoch möchte ich Ihnen sagen, was ich mit diesem „Begriff" verbinde: dumm, ungebildet, nicht selbstständig denkend, nicht durch Wissenschaften geprägt, von anderen (der Elite, den Ärzten?!) abhängig.
Also durchweg negative Assoziationen. Dies ist Pflege aber definitiv nicht mehr, denn sie bewegt sich immer weiter in Richtung Profession. Die Pflege ist die einzige Berufsgruppe, durch den der Pflegebedarf erhoben werden kann, somit stellt sich mir die Frage, ob Ärzte nicht auch von Pflegenden abhängig sind? Folglich müssten beide Berufsgruppen zu einer gegen-seitigen Entlastung beitragen.
Aber wenn Sie von Entlastung reden, sprechen Sie sich für eine Zuwanderung von ausländischen Pflegekräften aus. Warum nur? Halten Sie so wenig von „Ihren" eigenen Pflegekräften? Warum versuchen Sie nicht mal wirklich was am Ansehen und an der Bezahlung für Pflegekräfte zu ändern? Wundern Sie sich nicht, warum immer mehr deutsche Pflegekräfte ins Ausland gehen? Warum hängt Deutschland dem europäischen Standard so hinterher? Schauen wir zu unseren Nachbarn in die Niederlande, stellen wir fest, dass die Ausbildung dort ganz anders strukturiert ist, nämlich auf Hochschulniveau. Ich frage mich, wo das Problem ist, solch einen Standard auch in Deutschland zu erreichen?
Sie sprechen sich klar gegen eine Akademisierung der Pflege aus, dagegen die Ausbildung in den Hochschulsektor zu legen; Sie bezeichnen diesen Fortschritt gar als „Katastrophe". Dadurch wäre aber von Beginn an ein hohes Niveau zu erwarten und ebenso ein höheres Ansehen in der Gesellschaft, folglich auch unter Kollegen und der Ärzteschaft. Ich behaupte, dass viele angehende Medizinstudenten diese Ausbildung dann nicht nur als „Zwischenstopp" für ihre Wartesemester beginnen würden, sondern auf diesem Weg bleiben und weiter Fuß fassen würden.
Warum schaut man in Deutschland nicht mal über den Tellerrand, um sich weiter zu entwickeln? Warum trampeln wir seit 20 Jahren auf der Stelle, auf dem gleichen Standard und Entwicklungsstand? Das, was Sie mit dem „Import" ausländischer Pflegekräfte versuchen, ist lediglich die Verschiebung eines Problems, nicht aber die Ursachenbekämpfung, die sich ganz Pflege-Deutschland wünscht! Verstehen Sie mich nicht falsch, ich möchte die ausländischen Kollegen keineswegs abwerten, sondern möchte versuchen zu verstehen, warum man von außen Leute holt, aber gleichzeitig nichts versucht, etwas am eigentlichen Problem zu ändern.
Vielleicht sollten Sie so kurz vor der Bundestagswahl im September mal klare Worte zu diesem Thema sprechen und nicht mit Ihren warmen Worten auf Stimmenfang gehen! Wenn wir so weiter machen müssen, kann ich Ihnen versprechen, dass ich über kurz oder lang ebenfalls den Weg ins Ausland einschlagen werde, weil ich mich dort nicht Jedermann Rede und Antwort stehen muss, warum ich eben diesen Beruf ausübe, sondern stolz sein kann, eine Gesundheits- und Krankenpflegerin zu sein.
Mit freundlichen Grüßen
Meike Wellers