Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,
zu Ihrer Wiederwahl möchte ich Ihnen gratulieren, obwohl ich nicht unbedingt Ihrer Fraktion angehöre. Sie werden viel Post aus dem Volk bekommen und sicher das wenigste selbst lesen, daher versuche ich es mit einem offenen Brief, denn meine Verzweiflung ist groß.
Drei gestandene Frauen zwischen fünfundvierzig und sechzig Jahren wollen sich das Leben nehmen. Nicht sofort, denn den drei Damen geht es im Moment sehr gut. Die eine ist eine engagierte Ärztin, die Kollegin eine medizinische Fachangestellte, und ich bin Kranken-schwester. Viele Hausärzte betreuen ihre Patienten auch im Altenheim. Manchmal begleiten wir dabei unsere Chefs. Da hocken die alten Menschen in ihren Stühlen im Kreis um einen runden, klebrigen Tisch. Eine Greisin mit nach vorne gebeugten Oberkörper sitzt in ihrem Rollstuhl, der Sabber läuft ihr aus den Mundwinkeln, ein Plastiklätzchen um den Hals gebunden, das wohl schon lange nicht gewechselt worden ist.
Auf dem runden Tisch stehen unappetitlich aussehende Schnabeltassen mit undefinierbarem Inhalt. Die Alten sehen uns mit stumpfen Blicken an. Die Hände im Schoß, regungslos Stunde um Stunde, Tag um Tag, Woche um Woche. Es riecht nach abgestandenem Essen und Fäkalien. Mürrische Schwestern schlurfen durch die Gänge. Fragt man sie etwas, dann bekommt man meistens zur Antwort: „Ich nicht wissen!" Über eine Patientin wollen wir erfahren, ob sie die Medikamente vertrüge und fragen eine Pflegerin. Sie antwortet freundlich, aber hilflos, im gebrochenem Deutsch: „Ich keine Fachkraft, ich nicht weiß!", und sie geht ihres Weges mit bedauerndem Schulterzucken. „Wer weiß es denn dann?", rufen wir verzweifelt hinterher. Eine Antwort bekommen wir nicht.
Ungefähr eineinhalb Stunden gehen wir von Zimmer zu Zimmer. Als wir an den runden Tisch zurückkehren, sitzen die Alten immer noch so da wie vorher, bewegungslos, mit hängenden Köpfen, sabbernden Mündern, trüben Augen. Ein überforderter Hilfspfleger erbarmt sich und singt: „Alle meine Entchen". Eine andere Pflegekraft schiebt einem alten Herrn einen Brei in den Mund, das muss schnell gehen, der Mann hat kaum Gelegenheit zu schlucken, schon wieder drückt der gefüllte Löffel an seine geschlossenen Lippen. „Mensch Alter, mach die Fresse auf!" Das hat die Pflegerin nicht gesagt, aber vielleicht gedacht. Und wer kann es ihr verübeln, wenn es hinten und vorn an Personal fehlt. Sie muss sich beeilen, als Stationspflegerin muss sie jeden Schritt, quasi jedes Umblättern eines Blattes, jeden Vorgang dokumentieren, da hat man wahrhaftig für eine ruhige Essenseingabe keine Zeit.
Für behutsame Bewegungsübungen mit den alten Menschen, keine Zeit, für ein Gespräch, keine Zeit, für ein in den Arm nehmen – sowieso keine Zeit. Ich habe oft mit mir gehadert, warum gehe ich nicht als ausgebildete Krankenschwester im Altenheim arbeiten, wo ich doch alte Menschen so mag – ich kann es nicht, weil eine Stadt wie München kein Geld dafür hat. Also braucht es Hilfskräfte, die ich keineswegs diskriminieren möchte, aber diese brauchen Anleitung durch qualifiziertes und gut ausgebildetes Personal, egal welcher Nationalität und Herkunft, Hauptsache sie wissen, was sie tun. Wegen sprachlicher Barrieren ist eine Verständigung oft schwierig. Die Arbeit im Altenheim ist knallhart und so brauchen die Mitarbeiter Anreize und Motivation, damit ihnen die Arbeit mit den alten Menschen Freude macht.
Nun ist ja „Wiesn", das größte Volksfest der Welt, das schon seit langem zu einer legalisierten Besäufnisveranstaltung geworden ist. Millionen von Menschen besuchen die Stadt und ein großer Teil dieser Wiesnbesucher wird eines Tages genauso dahinvegetieren in irgendeinem Heim, wenn sie sich nicht vorher schon tot gesoffen haben. Warum kann die Münchner Vorzeigestadt nicht mal einen großen Batzen Geld in die Pflege und Betreuung der Heimbewohner investieren? Stattdessen rühmt sie sich, Veranstalterin der größten Besäufnisorgie der Welt zu sein. Nur ein Vorschlag: jeder Wiesn-Besucher zahlt einen Euro für die Altenheime in Bayern, dann kämen cirka sechs Millionen zusammen, wäre kein schlechter Einstieg für eine gute Sache.
So, und jetzt komme ich auf den Anfang meines Schreibens zurück. Wir drei gestandenen Frauen sorgen dafür, dass es unseren alten Patienten, die in die Praxis kommen, gut geht. Sie kriegen ihre Medikamente für Herz und Blutdruck, Streicheleinheiten und liebe Worte für die Seele. Aber was macht das für einen Sinn, sie bis ins hohe Alter gesund zu erhalten, wenn sie dann eines Tages, wenn sie gebrechlich werden, in einem Münchner Altenheim dahinvegetieren müssen?
Herr Ministerpräsident, Sie haben ja den Ruf, dass Sie sich um die Sorgen der Leute in Ihrem Land kümmern. Gehen Sie doch mal in ein städtisches Altenheim in München und machen sich selbst ein Bild von der Situation. Oft steht nur eine Fachkraft für dreißig Alte und Kranke zur Verfügung. Es will mir einfach nicht in den Kopf, dass Leute, die sich um die gebrechlichen Menschen in unserem Land kümmern, immer noch nicht angemessen honoriert werden und nur wenig gesellschaftliche Anerkennung genießen. Deswegen will es keiner machen.
Wir drei Frauen haben heute nach dem letzten Besuch im Altenheim gesagt: So wollen wir nicht enden, wir wollen nicht unwürdig im Elend verrecken, unsere Persönlichkeit aufgeben, in Windeln in Gitterbetten liegen, möglichst noch angebunden, weil keiner sich um uns kümmern kann und wir so unruhig geworden sind.
Herr Ministerpräsident – ich bin jetzt schon unruhig, tun Sie was! Ihr schönes Bayernland hat große Mängel vorzuweisen, aber darüber spricht man nicht gerne und man spricht auch nicht von den vielen Suiziden alter Menschen, die sich, ehe sie in einem Heim verrecken müssen, lieber aus dem Fenster stürzen.
Drei gestandene Frauen, alle drei in medizinischen Berufen tätig, noch gesund, noch kräftig, voll im Arbeitsleben, Steuerzahlerinnen seit vielen Jahren denken an ihren Suizid, weil sie ihren Lebensabend nicht in einem Altenheim verbringen möchten. Darf das wirklich sein?
Mit freundlichen Grüßen
Cordula Zickgraf