In den Medien wird immer wieder darüber berichtet: Demographischer Wandel, Pflegenotstand, schlechte Bezahlung, Assistenzcharakter der Pflege. Nur die Wenigsten wissen, welche Aufgaben und Tätigkeiten den Pflegefachberuf ausmachen. Und doch: Gerade die Pflegefachberufe, darunter zählen Gesundheits- und Krankenpflege, Gesundheits- und Kinderkrankenpflege und Altenpflege, sind die Berufe, die einen Großteil des Gesundheitswesens ausmachen.
Laut der Bundesagentur für Arbeit arbeiteten 2010 rund 748.000 Menschen in der Gesundheits- und Krankenpflege und 191.800 Menschen als Ärzte. Dies zeigt die enorme Wichtigkeit der Pflegeberufe im Gesundheitssystem. Doch warum sehen so viele Menschen den Pflegeberuf immer noch in einer Assistenzpostition? Warum genießen andere Gesundheitsfachberufe wie Physiotherapeuten, Logopäden, Ernährungsberater und andere ein höheres Prestige in der Öffentlichkeit?
Die Antworten auf diese Fragen liegen sicherlich in der Geschichte der Pflege. Vom Liebesdienst zum Beruf auf dem Weg in die Profession ist es ein gewaltiger Schritt. Dieser Schritt vollzog sich hauptsächlich im letzten Jahrhundert. Viele Pflegekräfte sind noch nach einem System ausgebildet worden, das viel stärker mit vergangenen Werten in der Pflege assoziiert war, als dies heute in der Evidenzbasierten Pflege der Fall ist. Heute prägen Bezugswissenschaften wie Medizin, Pharmakologie, Gerontologie, Psychologie, Naturwissenschaften und so weiter das pflegerische Handeln. Die Fähigkeit, systematisch und wissenschaftlich fundiert Pflegeplanungen zu erstellen und selbstständig nach diesen zu handeln, ist eine Kernkompetenz, die die Ausbildung in jedem Pflegefachberuf fordert und fördert. Dies ist mit einem höheren Aufwand in der Dokumentation verbunden, als das noch vor 50 Jahren der Fall war. Die Reaktionen darauf sind oftmals Unmut, Unverständnis und das Gefühl, man entferne sich von der Pflege hin zu einem "Bürojob". Das Berufsbild der Pflege hat sich deutlich geändert. Die Akademisierung hielt Einzug. Zeitgleich mit den höheren Anforderungen stieg auch die Nachfrage nach professionellen Pflegekräften aufgrund demographischer Gegebenheiten. Doch es fehlt an Nachwuchs in unserem Beruf. Dies sind alles Faktoren die sehr frustrierend sein können.
In der Vergangenheit hat die Pflege auch immer mehr Aufgaben abgegeben oder sich abnehmen lassen. Ernährungsberatung, Krankengymnastik, gewisse ärztliche Tätigkeiten - die Liste scheint unerschöpflich. Doch was ist der Pflege geblieben? Welche Domänen bedient die moderne Pflege letztendlich noch? Sind wir nur dazu da, delegierte Tätigkeiten auszuführen? Sind wir nur zum Waschen, Kleiden, Anreichen von Nahrung und Unterstützen bei der Ausscheidung fähig? Jede Pflegekraft sollte den Kopf schütteln und sagen: "Nein, ich bin doch viel besser ausgebildet! Ich bin zu viel mehr in der Lage!" Und diese Pflegekraft hätte Recht. Natürlich fehlt es oftmals an Ressourcen, wie Zeit, Geld und Hilfsmitteln, um jederzeit optimal zu pflegen. Obwohl dies oftmals in unseren Leitbildern steht, dass wir nach neuesten Erkenntnissen pflegen sollen, fehlen oft die Möglichkeiten. Es wird nach Kompromissen gesucht. Kompromisse aus denen Pflegekräfte und Pflegebedürftige als Verlierer herausgehen. Die Pflegekraft ist von sich selbst enttäuscht, da sie nicht optimal arbeiten konnte und die pflegebedürftige Person ist nicht optimal versorgt.
Um mehr Geld und Personal und damit mehr Zeit für die Pflege zu bekommen, benötigt man Wettbewerbsvorteile . Diese erreichen wir jedoch nicht einfach so - wir müssen uns stark machen. Für uns selbst. Es geht nicht darum, zu streiken. Es geht nicht um Auseinandersetzungen mit dem Arbeitgeber. Es erfordert eine Zusammenarbeit der Pflege untereinander. Die Pflege muss einen gesunden Stolz entwickeln, nach Außen als eigenständiger Beruf auftreten. Die Pflege muss an ihrem Image arbeiten. Dies beginnt zuerst innerhalb der eigenen Reihen. Der oben angerissene Unmut, oftmals wenig Zeit für Patienten zu haben, da man - so das subjektive Empfinden - oft mit bürokratischen Aufgaben beschäftigt ist, die Bezahlung, die Arbeitsbedingungen, die Diskrepanz zwischen Wissen und Möglichkeiten; all dies kann eine Energiequelle sein, eben diese Missstände in den eigenen Reihen zu beheben.
Wenn es Meldungen über Pflege gibt, sind es oftmals Missstände, die erläutert werden. Die Selbstwahrnehmung des eigenen Berufs unterscheidet sich jedoch erheblich von der Fremdwahrnehmung. In der Öffentlichkeit sind Pflegekräfte sehr angesehen (etwa 78 Prozent einer repräsentativen Stichprobe), während diese selbst ihr eigenes Image als schlecht bis sehr schlecht einschätzen (71,1 Prozent einer repräsentativen Stichprobe). Das bietet enorme Möglichkeiten. Die Öffentlichkeit steht dem Pflegefachberuf großteils mit Wertschätzung gegenüber. Diese Ressource gilt es zu nutzen.
Die Wertschätzung allein reicht allerdings nicht aus, um den berufspolitischen Stand der Pflege zu verändern. Die klassische Domäne der Pflege (Unterstützung bei den ATL, den Aktivitäten des täglichen Lebens) erweckt sehr schnell den Anschein, dass Pflege etwas ist, was im Grunde jeder Mensch kann. Der Unterschied von Laienpflege zu professioneller Pflege ist in der Öffentlichkeit nicht bewusst. Dabei liegen die größten Kompetenzen der Pflege gerade darin, nicht nur stupide Anweisungen auszuführen und dem Patienten bei den ATL behilflich zu sein.
Die Pflege ist sehr gut dahingehend ausgebildet, Pflegesysteme anzuwenden, Pflegeplanungen zu verfassen und selbstständig danach zu arbeiten. Dies ist unsere Selbstständigkeit. Laienhaft einen Menschen waschen, lernt man innerhalb weniger Stunden. Jedoch wissenschaftlich fundiert, präventiv und ressourcenorientiert arbeiten, das kann man nur nach einer entsprechenden Ausbildung.
Die Gesundheitspflege, welche sich seit der Reform im Krankenpflegegesetz 2004 sogar in der veränderten Berufsbezeichnung "Gesundheits- und Krankenpfleger" niederschlägt, ist ein stark unterschätztes Berufsfeld der Pflege. In Kranken- aber auch Altenpflege ist die Salutogenese, die Lehre von der Gesundheitserhaltung, in Pflegesystemen allgegenwärtig. Jedoch muss die Gesundheitspflege noch expliziter in den Pflegealltag integriert werden, um uns einerseits von der Laienpflege abzugrenzen, andererseits jedoch auch, um uns eine Eigenständigkeit und ein berufliches Selbstvertrauen zu geben. Die Prävention und Beratung sind die Bereiche unserer Arbeit, die nicht in der öffentlichen Wahrnehmung von jedem erfüllt werden können. Dies gibt uns einen Wettbewerbsvorteil, den wir dazu nutzen sollten, die Position der Pflege zu stärken.
Im Grunde erfordert es ein Umdenken in der Pflege. Die Missstände müssen aus dem Fokus der Diskussionen verschwinden. Es muss das berufliche Selbstverständnis hervorgehoben werden. Die Aufgabenfelder der Pflege müssen sich erweitern und im präventiv-beratendem Bereich gefestigt werden. Wir müssen zum "Gesundheitsanwalt" unserer Klienten werden. Denn dazu sind wir ausgebildet: Systematisch, wissenschaftlich, gesundheitserhaltend und gemeinsam mit unserem Patienten partnerschaftlich zu arbeiten. Dies unterscheidet professionelle Pflege von Laienpflege.
Wenn die Pflege das Image verloren hat, dass sie nur assistiert und keine eigenverantwortlichen Aufgaben hat, dann erst kann man Maßnahmen ergreifen, um Arbeitsbedingungen zu verbessern. Weil sich Pflege dann unersetzlich gemacht hat. Der Markt wird bestimmt von Angebot und Nachfrage - es ist eine einfache Rechnung. Durch die fortlaufende Professionalisierung und Akademisierung wird es früher oder später einen Zuwachs von Pflegekräften geben. Doch dazu muss sich das Aufgabenfeld attraktiver gestalten. Dies erfordert auch "unbeliebte Tätigkeiten", wie genaue Dokumentation und das Erstellen von genauen Planungen. Doch der Preis dafür ist es wert. Er besteht darin, einen selbstständig arbeitenden, anspruchsvollen, prestigebehafteten und erfüllenden Beruf ausüben zu dürfen. Die Öffentlichkeit sieht uns positiver als wir uns selbst darstellen. Wenn wir uns eine Domäne sichern, wie die Gesundheitspflege, und uns unverzichtbar machen, erleichtern sich alle berufspolitischen Handlungen.
1 statistik.arbeitsagentur.de/Statischer-Content/Arbeitsmarktberichte/Berichte-Broschueren/Arbeitsmarkt/Generische-Publikationen/Gesundheits-und-Pflegeberufe-Deutschland-2011.pdf (Zugriff 21.06.2012)
2 frei nach: Henner Lüttecke, "Das Image der Pflege" in: Psych. Pflege Heute, Ausgabe 06, Jahrgang 9, November 2003
3 Alten- und Krankenpflege im Spiegel der öffentlichen Wahrnehmung
Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung zur Wertschätzung zweier Dienstleistungsberufe (Kurz-Georg Ciesinger et al., Dortmund, Januar 2011
4 Wie sieht es im Pflegealltag wirklich aus? - Fakten zum Pflegekollaps
Ausgewählte Ergebnisse der DBfK-Meinungsumfrage 2008/09