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Tagesschläfrigkeit bei Heimbewohnern

„Pflegende spielen eine wesentliche Rolle"

Unter alten Menschen sind Schlafstörungen weit verbreitet. Eine aktuelle Studie unter 7.500 Heimbewohnern hat ergeben: Rund neun Prozent leiden täglich an Tagesschläfrigkeit. Was diese Erkrankung genau ist, welche Auswirkungen sie auf das Leben der Betroffenen hat und wie Pflegende damit umgehen können, erklärt Gesundheitswissenschaftlerin und Senior Research Expert an der HTW Berlin, Vjenka Garms-Homolová, im Gespräch mit Station24.

Frau Garms-Homolová, Sie haben in einer Untersuchung in 39 Pflegeheimen festgestellt, dass etwa neun Prozent der Bewohner an Tagesschläfrigkeit leiden. Wie kommt es zu der doch recht hohen Zahl von Betroffenen?

Übermäßige Tagesschläfrigkeit hat multifaktorielle Ursachen, die in der alten Bevölkerung mehr verbreitet sind als bei Jüngeren und Mittelalten. Viele alte Menschen leiden an Schlafstörungen, zum Beispiel an Insomnie, also Problemen beim Ein- und Durchschlafen, am „Syndrom der unruhigen Beine", dem sogenannten Restless Legs Syndrom, oder sie schnarchen mit und ohne Atemaussetzer. Die von diesen Störungen Betroffenen schlafen schlecht in der Nacht und neigen dazu, das Schlafdefizit tagsüber auszugleichen.

Zum anderen haben viele alte Menschen Erkrankungen, die von Schlafstörungen begleitet werden, beispielsweise Depressionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Fettsucht und andere. Schließlich wird die übermäßige Tagesschläfrigkeit oft durch Langeweile und Fehlen sinnvoller Beschäftigung verursacht, durch unnötige Bettlägerigkeit, eingeschränkte soziale Beziehungen und bestimmte Umweltfaktoren wie falsche Beleuchtung oder zu wenig Tageslicht.

Letzteres kommt in stationären Pflegeeinrichtungen durchschnittlich häufiger als außerhalb vor. Internationale Zahlen besagen, dass zehn bis 30 Prozent der 65-Jährigen und Älteren von übermäßiger Tagesschläfrigkeit betroffen sind. Wir haben in unserer Untersuchung mit 7.500 Personen festgestellt, dass gut neun Prozent der Bewohner täglich an Tagesschläfrigkeit leiden.

Können Sie kurz erklären, was Tagesschläfrigkeit ist?

Übermäßige Tagesschläfrigkeit – das sogenannte Excessive Daytime Sleepiness - ist eine Neigung oder ein Bedürfnis, die meiste Tageszeit zu dösen oder zu verschlafen. Aber nicht nur die Schlafneigung, sondern auch der tatsächliche Schlafzustand oder der Zustand des Dösens in Situationen, in denen eigentlich das Wachsein und die volle Aufmerksamkeit angemessen wären, gelten als übermäßige Tagesschläfrigkeit.

Wenn aber jemand gerade mal einen schläfrigen Tag hat, ist das völlig unbedenklich! Für die Feststellung der übermäßigen Tagesschläfrigkeit ist es nämlich entscheidend, dass dieser Zustand regelmäßig auftritt. Das heißt an fünf bis sechs Tagen der Woche oder täglich und dass er über einen längeren Zeitraum von mehreren Wochen andauert.  

Wie verändert sich der Schlaf im Alter und wie viel davon ist bei älteren Menschen „normal"?

Das Bedürfnis nach Schlaf ändert sich im Laufe des ganzen Lebens. Kinder und Jugendliche brauchen mehr Schlaf als Erwachsene. Etwa genauso viel Schlaf wie Jugendliche brauchen alte Erwachsene – im Durchschnitt sieben bis acht, höchstens neun von 24 Stunden.

Viele Ältere und Alte bekommen weniger Schlaf, wenn sie unter Schlafstörungen leiden. Falsch ist allerdings die Annahme, dass zum Alter ein schlechter Schlaf gehört. Gesunde alte Menschen müssen nicht an Schlafstörungen leiden! Wichtig zu wissen ist, dass sich mit fortschreitendem Alter die Schlafmuster verändern.

Was bedeutet das genau?

Erstens verlängert sich die „Einschlaflatenz", die Zeit, die zwischen dem Einschlafen und dem Tiefschlaf vergeht. Zweitens wird der nächtliche Schlaf von wiederholtem Aufwachen unterbrochen: Er ist „fragmentiert", insgesamt „flacher", womit gemeint ist, dass der Tiefschlafanteil reduziert ist. Drittens besteht die Tendenz zum Frühaufwachen und das Bedürfnis nach „Nickerchen" tagsüber steigt. Diese sollen jedoch 15 Prozent der Tageszeit auf keinen Fall übersteigen. Neueste Forschungsergebnisse unterstreichen sogar, dass eher nur 10 Prozent unbedenklich sind.     

Unter welchen Beeinträchtigungen leiden tagesschläfrige Bewohner vor allem?

Zunächst führt die übermäßige Tagsschläfrigkeit zu weiteren Schlafstörungen: Wer tagsüber viel schläft, liegt nachts überwiegend wach. Nach mehreren Tagen geht das Zeitgefühl verloren und die Grenze zwischen dem Schlafen und Wachen wird aufgehoben. Bereits das häufige und lange Liegen kann den Gang der „inneren Uhr" nachhaltig verändern.

Das hat körperliche Konsequenzen, Muskeln schlaffen ab, der Blutdruck wird instabil. Beim Aufstehen drohen deshalb Stürze und Unfälle. Die Grundfähigkeiten, sprich Bewegung und Gehen, sich waschen, an- und auskleiden, nehmen rapide ab. Außerdem bekommen Menschen, die tagsüber dösen oder schlafen, nicht genug Nahrung und Flüssigkeit.

Herausragend sind die negativen Folgen für die kognitiven Funktionen, also Gedächtnis, Denken und Fähigkeit, auch nur einfache Aufgaben zu bewältigen. Studien - auch unsere eigene - zeigen, dass die Betroffenen viel schneller abbauen, als Bewohner, die nicht zu den Tageschläfrigen gehören.

Wie können Pflegende und Angehörige eine übermäßige Tagesschläfrigkeit bei ihrem Patienten oder Familienmitglied erkennen?

Häufig ist direktes Nachfragen nicht hilfreich. Umso wichtiger sind eine genaue Beobachtung und ein einfaches Rechnen. Nehmen Sie an, dass eine Heimbewohnerin in der Nacht acht Stunden schläft. Ihre Tageszeit beträgt dementsprechend 16 Stunden. 15 Prozent davon sind zweieinhalb Stunden. Das ist die maximale Gesamtzeit, die ihr für den Mittagsschlaf und jegliches Ruhen zur Verfügung steht.

Bei der Überprüfung, ob die Person nicht zu lange „ruht", berücksichtigen Sie auch das Dösen, zum Beispiel ein kurzes Einnicken vor dem Fernseher oder beim Lesen, und den gesamten Verbleib im Bett,  etwa wenn die Bewohnerin auf ihre Pflege wartet, die ihr mit dem Aufstehen und der Morgentoilette hilft. Wenn die zweieinhalb Stunden überschritten werden, wird es gefährlich. Falls Sie ganz sicher gehen wollen, setzen Sie entsprechend der neueren Forschung lediglich anderthalb Stunden ein!

Gibt es einen Leitfaden, mit dem Pflegende Schlafstörungen identifizieren können?

Es gibt einige einfache, zuverlässige Instrumente, die in deutscher Sprache erhältlich sind. Wobei auch die Anleitung zur Auswertung verfügbar ist. Als Beispiel nenne ich Ihnen die Epworth Schläfrigkeits-Skala, Epworth Sleepiness Scale. Bewährt haben sich auch Schlaftagebücher, in die Bewohner eintragen können, wie sie nachts schlafen und was sie tagsüber tun.

Auch gemeinschaftlich kann man Aufzeichnungen über den individuellen Schlaf-Wach-Rhythmus führen. Man hängt im Wohnbereich Tagesplaner auf, in den die Bewohner ihre Nickerchen eintragen. Solche Selbstkontrolle ist eine sinnvolle Beschäftigung, mit der man manche Leerlaufzeiten ausfüllen kann und die auch für kognitiv nicht mehr so fitte Menschen geeignet ist. Dabei kann etwa eine Ergotherapeutin mit der Vorbereitung helfen.  

Schwere Schlafstörungen, und das heißt auch Tagesschläfrigkeit, sollen allerdings vom Spezialisten abgeklärt werden. Der genaue Grad des Wachseins wird mit Polysomnographie und anderen physiologischen Methoden erfasst.

Inwiefern sollten Pflegende, die bei einem Heimbewohner eine Tagesschläfrigkeit festgestellt haben, aktiv eingreifen?

Pflegende sollen darauf achten, dass die Bewohner tagsüber nicht zu viel Zeit im Bett verbringen, in der Nacht lieber aufstehen und sich beschäftigen, falls sie nicht einschlafen können; tagsüber sollten die Nickerchen beschränkt werden. Und ganz wichtig: Der Mittagsschlaf sollte nicht mehr als 30 Minuten dauern!

Darüber hinaus können die Pflegenden ihre Patienten dabei unterstützen, einen leichten Zugang zu für sie sinnvollen Aktivitäten zu finden, die sie interessieren, um nicht untätig zu sitzen und dabei einzunicken oder zu dösen. Ganz wesentlich ist auch, dass die Betroffenen einen  möglichst regelmäßigen Tagesablauf haben: Speziell die Zeiten des Aufstehens und Zubettgehens sollen möglichst konstant gehalten werden.

Auch regelmäßige Bewegung ist natürlich wichtig. Allerdings gemäß den individuellen Fähigkeiten. Wobei die Bewohner aber durchaus an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gehen sollten.  

Gibt es auch Personen, bei denen man die Tagesschläfrigkeit akzeptieren muss?

In bestimmten Situationen ist die Tagesschläfrigkeit akzeptabel und erwünscht, beispielsweise bei schweren Erkrankungen, die eine chronische Erschöpfung verursachen. Oder in der palliativen Versorgung, die sich ganz nach den Wünschen der Patienten richten soll.

Wenn sie ruhen, dösen und „tagträumen" wollen, dann sollen die Pflegenden und Betreuer ihnen das ermöglichen. Aber nur, wenn sie es tatsächlich wollen, was in einer sensiblen Art immer wieder erfragt werden muss, weil sich die Wünsche ändern.

Auch Menschen, die Pflege am Lebensende erhalten, müssen nicht aktiviert oder geweckt werden. Manche von ihnen brauchen die sogenannte „terminale Sedierung", die sie in einen schlafähnlichen Zustand versetzt und die oft schwer erträglichen Symptome des Sterbeprozesses lindert.

Aber auch für die terminale Sedierung ist das Einverständnis des Patienten oder derjenigen notwendig, die sich genau vorstellen können, wie der Patient selbst entscheiden würde.  

Wie kann man diese Menschen trotzdem dabei unterstützen, das Gefühl für Zeit und Teilhabe nicht ganz zu verlieren?

Indem wir akzeptieren, dass jeder Mensch, auch der schwerstkranke oder palliative oder sterbende Patient tatsächlich den Anspruch auf die Teilhabe hat. Gerade Menschen mit einer sehr  eingeschränkten Lebenszeit haben oft noch Vieles vor, was sie sich vornehmen wollen oder erledigen müssen. Gerade sie brauchen die Unterstützung, die ihnen das ermöglicht.

Allerdings sind einige Altenpflege-Experten auch der Meinung, dass Tagesschläfrigkeit im hohen Alter eine „Gnade" ist. Was sagen Sie dazu?

Noch vor rund zehn Jahren hat die Forschung den Schlafstörungen ganz allgemein und besonders den Schlafstörungen alter Menschen zu wenig Beachtung geschenkt. Heute ist das Wissen über  Schlafstörungen, ihre Ursachen und ihren Einfluss auf individuelle Gesundheit, Lebenserwartung und gesamte Lebenssituation im Alter enorm gewachsen.

Nicht überall wurden diese wichtigen Erkenntnisse bereits von der Pflegepraxis aufgenommen. Entsprechend groß ist der Nachhol-, das heißt Fortbildungsbedarf. Auch viele gut qualifizierte Pflegende weisen im Hinblick auf den Schlaf im Alter große Wissens- und Kompetenzdefizite auf, obwohl sie ansonsten als Altenpflegeexperten gelten.

Die „exzessive Tagesschläfrigkeit" kann das Produkt von Personalengpässen in Pflegeeinrichtungen sein, weil sich der Pflegeaufwand scheinbar reduziert, wenn Bewohner im Bett sind. In Wirklichkeit steigt der Pflegebedarf aber, weil sich die Pflegeprobleme vermehren, wenn die geistige Leistungsfähigkeit der Viel- oder Langschläfer und deren gute Stimmung schwinden. Dann steigt auch die Häufigkeit von Stürzen und Unfällen. Häufig verschlechtern sich auch der Ernährungszustand und das Trinken.

Frau Garms-Homolová, herzlichen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Johanna Kristen.

 

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