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Pflegeethik – Wenn Pflege rationiert wird

„Es resignieren immer mehr Pflegekräfte, die Patientenversorgung ist viel schlechter als früher, der Ton gegenüber Patienten und anderen Mitarbeitern ist oft eher unfreundlich und gereizt. Es passieren Pflegefehler, der Ablauf ist erheblich gestört, viele wichtige Dinge werden übersehen." So beschreibt eine erfahrene Gesundheits- und Krankenpflegerin in einer deutschen Universitätsklinik ihre Arbeitssituation (Meinungsumfrage des DBfK1).

Wird ein Gut rationiert, heißt das, dass derjenige, der es eigentlich erhalten soll, davon weniger bekommt als nützlich oder notwendig ist2. Im Rahmen von „Pflegen" bedeutet das, dass Patienten weniger Pflege erhalten, als sie brauchen, oder den Verlust von Pflegequalität.

Was heißt das für Patienten und beruflich Pflegende? Welche ethischen Fragen und Konflikte ergeben sich aus der oben beschriebenen Problematik?

Ethik ist die Reflexion und systematische Betrachtung von moralischen Gegebenheiten und die Möglichkeit, Moral auf argumentative Füße zu stellen. Ethik will dabei helfen, Antworten zu finden auf die Frage „Was soll ich tun?". In der Folge heißt das, dass Ethik keine fertigen Antworten gibt – und schon gar nicht einfache.

Um die Komplexität des Themas annähernd ausreichend zu berücksichtigen, geht der fragende Blick in diesem Artikel in zwei Richtungen:
•    die Mikroebene, die sich mit der direkten Pflege (den Pflegemaßnahmen) beschäftigt bei denen sich Patienten und Pflegende direkt begegnen und
•    die Mesoebene, die für die indirekte Pflege steht, auf der es um die Organisation von Pflege und um Entscheiden und Handeln der verschiedenen Leitungsebenen geht.

Die Suche nach Antworten auf die Frage „Was soll ich tun?" ist auf die Zukunft gerichtet, und hier erscheint vor allem konstruktives und prospektives Denken und Handeln sinnvoll.

Die ethischen Blick- und Argumentationsrichtungen sind nach einem Modell geordnet, das im Gesundheitswesen vielfach erprobt ist: die Prinzipienorientierte Ethik nach Beauchamp und Childress3. Hierbei werden vier Prinzipien mittlerer Reichweite herangezogen, mit denen moralische Konflikte analysiert und bewertet werden können. Beauchamp und Childress wählten diese Prinzipien, weil sie an moralischen Alltagsvorstellungen anknüpfen und gleichzeitig allgemeine ethische Orientierung bieten.

Die vier Prinzipien sind:

1) Respekt vor der Autonomie
Das Autonomieprinzip gesteht jeder Person das Recht zu, seine eigenen Ansichten zu haben, seine eigenen Entscheidungen zu fällen und Handlungen zu vollziehen, die den eigenen Wertvorstellungen entsprechen.

Mikroebene:
Mögliche Fragestellungen: Sind autonome Patienten gerne gesehen oder sind sie eher unbequem? Sie stellen viele Fragen und haben konkrete Vorstellungen – das kann viel Zeit kosten! Sind mir bei Zeitknappheit die „bequemeren" Patienten lieber?
Nehme ich die Autonomie wirklich ernst, reicht es nicht aus, Entscheidungen und Haltungen von Papienten zu respektieren, sondern ich muss sie auch in die Lage versetzen, eine solide Entscheidung treffen zu können. Hier bin ich als Pflegender in meiner Rolle als Berater gefragt und gefordert. Nehme ich diese Verantwortung an?

Mesoebene:
Aus Sicht der Einrichtung stellen sich hier Fragen, die damit zu tun haben, wie oder in wie weit Mitarbeitende als autonome Individuen wahrgenommen werden. Fühlt sich die Pflegekraft wertschätzend und wohlwollend wahrgenommen? Wie gut kann eine Pflegende, die sich nicht wertgeschätzt fühlt, Patienten individuell und wertschätzend wahrnehmen? Gibt es da einen Zusammenhang? Gibt es im Betrieb Möglichkeiten der Mitbestimmung und Mitgestaltung? Wie gehen man in der Einrichtung mit Fehlern um und wirkt sich das auf die Arbeitszufriedenheit aus?
Magnetkrankenhäuser haben solche Zusammenhänge realisiert und werden von Mitarbeitenden und Patienten gleichermaßen angesteuert oder „magnetisch" angezogen.

2) Prinzip der Schadensvermeidung
Hier geht es darum, dem Patienten keinen Schaden zufügen. Dies erscheint zunächst selbstverständlich. Bei einer Vielzahl von Pflege- und Behandlungssituationen kann sich jedoch beispielsweise die Frage stellen, ob eine weitere Maßnahme dem Patienten nicht eher schadet als nützt und damit unterlassen werden sollte.

Mikroebene:
Mögliche Fragestellungen. Wenn ich als Pflegender Schaden von den Patienten in meinem Zuständigkeitsbereich fernhalten möchte, ist es meist notwendig, diese zu sehen und zu beobachten. Aber wie oft sehe ich „meine" Patienten? Und wie lange sehe ich sie mir an? Wie genau sehe ich hin? Und je nach dem, was zu sehen ist, kann es bedeuten, dass ich Zeit investieren muss, um möglicherweise wirklich Schaden abzuwenden. Tue ich das? Je weniger Kontakte es zwischen Pflegenden und Patienten gibt, desto eher werden folgenschwere Komplikationen übersehen oder zu spät entdeckt4.
Ebenfalls häufig von Bedeutung in Bezug auf Schadensvermeidung ist solide Information. Wie gut komme ich der Verpflichtung nach, Patienten individuell, ausreichend und verständlich zu informieren und zu beraten? Diese Forderung ist im Ethik-Codex des ICN5 deutlich beschrieben.
Die Aufrechterhaltung der Fachkompetenz durch kontinuierliche Fort- und Weiterbildung ist ein weiterer Faktor zur Abwendung von Schaden. Nehme ich diese persönliche Verantwortung für die Durchführung von Pflegemaßnahmen wahr? Habe oder nutze ich Möglichkeiten zur Fortbildung?

Mesoebene:
Wie lange bleiben die Mitarbeiterinnen in einer Einrichtung? Wie hoch ist die Fluktuation? Wie oft denken die verbliebenen Mitarbeiterinnen daran, den Beruf aufzugeben? Werden in meiner Einrichtung wissenschaftliche Erkenntnisse über die Belastungen im Pflegedienst berücksichtigt, wie Glaser6 sie beschrieben hat? Gibt es Konzepte für die Gestaltung der Arbeitsumgebung für die älteren Mitarbeiterinnen im Pflegedienst? Immerhin wird die Gruppe „50+" in der Pflege immer größer.

3) Prinzip der Fürsorge
Das Wohl des Patienten soll gefördert werden und professionelles Handeln soll dem Patienten nützen. Dies umfasst die Verpflichtung der Akteure, Krankheiten zu behandeln oder (präventiv) zu vermeiden, Beschwerden zu lindern und das Wohlergehen des Patienten zu befördern. Während das Prinzip des Nichtschadens fordert, schädigendes Tun zu unterlassen, verpflichtet das Fürsorgeprinzip zu aktivem Handeln. Dies erfordert im Einzelfall eine sorgfältige Abwägung von Nutzen und Schaden unter Berücksichtigung der individuellen Präferenzen des Patienten.

Mikroebene:
Mögliche Fragestellungen: Wie steht es um das Wohl der Patienten? Welchen Anteil habe ich als Pflegender daran, Gesundheit zu fördern, Krankheit zu verhüten, Gesundheit wieder herzustellen und Leiden zu lindern? Wie gut gelingt es mir, Patienten zu beraten und zu fördern? Wie steht es um die Sicherheit von Patienten? Die letzten beiden Pflegethermometer7 haben dazu alarmierende Ergebnisse gezeigt.
Wie gut gelingt es mir als Pflegendem bei all dem, auf die eigene Gesundheit zu achten?

Mesoebene:
Gelingt es mir als Vorgesetztem, das Wohl der Mitarbeitenden zu fördern? Kann gut gepflegtes Pflegepersonal besser pflegen? Gibt es Vorstellungen oder Konzepte dazu, was für meine Mitarbeiter positive Arbeitsbedingungen sind und wie sie gestaltet werden könnten?8 Möchte ich die Entwicklung der Mitarbeitenden meiner Einrichtung gezielt fördern? Spielt Personalentwicklung im Haus eine Rolle? Dies sind Fragen, dessen Beantwortung sich auf das Wohl sowohl von Mitarbeitenden als auch von Patientinnen auswirkt.

4) Prinzip der Gerechtigkeit
Dieses Prinzip fordert die gerechte Verteilung von Gesundheitsleistungen. Gleiche Fälle sollen gleich behandelt werden und vorhandene Ressourcen fair verteilt werden. Hier muss in der konkreten Anwendung geklärt werden, welche Kriterien ausschlaggebend sein sollen und wer welches Recht hat in der konkreten Situation.

Mikrobene:
Mögliche Fragestellungen: Wer bekommt wie viele Minuten meiner Arbeitszeit? Reicht die Arbeitszeit aus, um den Bedürfnissen der Patienten gerecht zu werden? Kann ich, wie der ICN-Kodex es fordert, Menschenrechte, Wertvorstellungen, Sitten und Glauben respektieren? Wie steht es zum Beispiel um die Menschenrechte der Patienten, wenn mangels ausreichender Überwachung oder Lagerungswechsel das Recht auf körperliche Unversehrtheit nicht mehr in allen Fällen garantiert ist?
Setze ich persönlich mich für gerechte, soziale und wirtschaftliche Arbeitsbedingungen ein, etwa durch Engagement in einem Berufsverband?

Mesoebene:
Wie werden die meist knappen Ressourcen Zeit und Geld in der Einrichtung verteilt? Welche Berufsgruppe, welcher Bereich des Hauses bekommt wie viel von dem eingenommen Erlösen? Bin ich sicher, dass in meiner Einrichtung Menschenwürde und Rechte aller Beteiligten gewahrt sind?

Diese Fragen werden sich viele Kolleginnen und Kollegen stellen. Antworten kann wie eingangs angekündigt, dieser Artikel nicht darauf geben, aber er sorgt für die Bewusstmachung des Zweispaltes in dem sich beruflich Pflegende häufig befinden.

Gedanken zum Schluss
Das oben beschriebene Phänomen ist nicht neu. Bereits in den 1980er Jahren beschäftigte sich Käppeli in der Schweiz damit, nach welchen Kriterien entschieden werden könne, welche Pflegemaßnahmen man in Situationen des Personalmangels zurückstellen könne, ohne unterhalb dessen zu bleiben, was Fiechter/Meier „sichere Pflege"9 nennen. Das Konzept von Käppeli wurde nicht veröffentlicht und nicht breit diskutiert, weil nicht sein konnte, was nicht sein darf. Käppelis Konzept hat Angst ausgelöst. Angst vor der Reaktion verunsicherter Patienten.

Ist die Verschleierung der Problematik besser für Patienten – aus ethischer Sicht vertretbarer?

Was wir heute sicher nicht brauchen ist ein allgemeines Wegsehen. Chorpsgeist, der dazu führt, Probleme unter den Teppich zu kehren und nicht offen und strukturiert mit Engpässen umzugehen, ist eher gefährlich.  Das führt eher zu spontanen, übereilten und oft falschen Entscheidungen „aus dem Bauch heraus".

Was wir brauchen sind kreative und konstruktive Pflegende, die die gegebene Situation annehmen und gestalten. Jeder sollte sich die oben genannten und weitere Fragen stellen und selbst nach Antworten suchen. Wie offen gehe ich mit Rationierung von Pflege, mit Versorgungsdefiziten und Überlastungssituationen und deren Folgen um? Entwickle ich möglicherweise mit meinen Dienstvorgesetzten für meine Einrichtung passende Konzepte, die es erlauben, gezielt und strukturiert zu reagieren, wenn klar ist, dass ich nicht alles schaffen kann, was getan werden müsste? Nun wer sich Fragen stellt und Antworten findet, kann auch Entscheidung treffen. Nur so lasen sich die Rahmenbedingungen der Pflegeberufe positiv im Sinne der Patienten und der beruflich Pflegenden verändern.

Patienten und Pflegende brauchen einen offenen und verantwortungsvollen Umgang mit dem Gegebenen und immer wieder die Auseinandersetzung mit der Frage: „Was soll ich tun?"
 


1 DBfK Bundesverband; Wie sieht es im Pflegealltag wirklich aus? – Fakten zum Pflegekollaps, Meinungsumfrage 2009, www.dbfk.de
2 Gosepath, Stefan; Kann das Gut Gesundheit gerecht verteilt werden? In: Gesundheit für alle – wie lange noch? Tagungsdokumentation des Nationalen Ethikrates 2006, S. 19ff
3 Marckmann, Georg; Was ist eigentlich prinzipienorientierte Medizinethik? In: Ärzteblatt Baden Württemberg, 2000, Heft 5, Aufsatz 74
4 Aiken LH, Clarke SP et al.; Hospital nurse staffing and patient mortality, nurse burnout, and job dissatisfaction; Center for Health Outcomes and Policy Research, School Nursing, University of Pennsylvania; JAMA 2002, Oct 23-30, 288 (16)
5 ICN-Ethik-Kodex für die Krankenpflege; DBfK Bundesverband; www.dbfk.de/download/download/Berufspolitik-international.php
6 Glaser, J. / Höge, Th.; Probleme und Lösungen in der Pflege aus der Sicht der Arbeits- und Gesundheitswissenschaften; Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Berlin 2005
7 Isfort, M; Weidner, F. et al.; Pflege-Thermometer 2009. Eine bundesweite Befragung von Pflegekräften zur Situation der Pflege und Patientenversorgung im Krankenhaus; Herausgegeben von: Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung e.V. (dip), Köln. Online verfügbar unter www.dip.de
8 Kristensen, T.S.; Challenges for research and prevention in relation to work and cardiovascular disease; Scandinavian Journal of Work 1999, Environment an Health 25 (6), S. 550-557
9 Fiechter, Verena / Meier, Martha; Pflegeplanung: Eine Anleitung für die Praxis; Recom Basel, 1981, S. 174

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