Nachdem ihr Entschluss für einen selbstbestimmten Freitod gefallen ist, weiht Siggi engste Freunde und Vertraute ein. Und macht sich mit ihnen auf den Weg in die Schweiz, auf ihre letzte Reise, die sie spontan mit der Videokamera dokumentiert.
So fuhren wir, also Siggi, Ole, ihr langjähriger Betreuer, mein Mann Wolfgang und ich mit dem Wohnmobil an einem sonnigen Sonntagmorgen von Düsseldorf aus in Richtung Bodensee und Insel Reichenau. Kurz vor der Abreise war Siggi auf die Idee gekommen, diese letzte Reise filmisch zu dokumentieren. An die Videokamera mussten sich alle Beteiligten gewöhnen. Da Siggi jedoch offenbar Gefallen an der spontanen Gestaltung des Drehbuchs fand und außerdem die Kamera nutzte, um ihre Mitteilungen festzuhalten, stellten sich alle einigermaßen auf diese Art der Dokumentation ein, auch wenn ein irgendwie befremdliches Gefühl nicht so recht weichen wollte. Für kurze Momente schien es beinahe, als habe Siggi beschlossen, ihr Leben feiernd zu verlassen. Aber der Anlass dieser Reise rief sich unweigerlich selbst wieder in Erinnerung, und so wechselten Reiselust und Beklommenheit, manchmal auch ein absurdes Empfinden oder schlicht Trauer einander ab.
Die Selbstverständlichkeit und Bestimmtheit, mit der Siggi ihre letzte Reise vorbereitet hatte, ihre Reise aus dem Leben, aus diesem Leben, hatte nicht viel Raum für Zweifel gelassen. Wer auch immer 'eingeweiht' worden war, war alsbald von dieser Unmissverständlichkeit eingenommen oder aber gefordert worden, mit ebensolcher Deutlichkeit zu widersprechen und ihr Alternativen für diesen Weg aufzuzeigen. Alternativen, die nach ihrem Lebensverständnis und Lebensgefühl des Erlebens wert waren. Ihre Bestimmtheit überwog. Und weil Lebensgefühl zwar vermittelbar, das Leben im Dasein eines anderen zu leben aber nicht vorstellbar ist, hatte auch niemand Alternativen zu bieten gehabt und bis auf Ole – der etwa vor einem mehrstündigen Koma als mögliches Risiko dieser Art des Suizids warnte - auch niemand widersprochen.
Natürlich hatte sie ihre Gesprächspartner entsprechend ausgewählt – sie schützte sich vor Widerspruch. Und andere schützte sie vor der Auseinandersetzung, die zu führen bis dato offenbar nicht möglich gewesen war oder die aus welchen Gründen auch immer nicht stattgefunden hatte. Jedenfalls hatte niemand sie von ihrem Weg abgebracht, der nun mit der Reise in die Schweiz enden sollte.
"Wir lassen uns einfach gleiten."
Erst während der Reise konnte ich einen Blick auf ihren Dekubitus werfen, als ich sie ins Bett legte. Die Druckstelle erschien mir angesichts der Umstände und der bevorstehenden Tage harmlos und unbedeutend. Ich fragte mich, ob ich um der vermeintlichen Objektivierung eines nur subjektiv zu beurteilenden Zustandes Willen mir ein genaueres Bild von ihrem körperlichen Zustand und ihrem oftmals erwähnten Dekubitus hätte machen sollen. Für einen kurzen Moment fühlte ich mich auf eine ungewohnte Weise eingenommen, die mir jeglichen Widerspruch versagt hatte. Aber Lebensperspektiven lassen sich nicht anhand der Größe einer Druckstelle beurteilen. Außerdem beurteilte sie deren Ausmaß täglich selbst, in dem sie sich einen Spiegel so halten ließ, dass sie sich im Bett liegend ein Bild davon machen konnte. Ich gab den Widerstand in mir wieder auf und war froh, dass die Wunde sich durch das ganztägige Sitzen nicht vergrößert hatte.
Bewusst hatte Siggi für den Aufenthalt auf der Reichenau bis auf die Unterkunft nichts geplant. "Wir lassen uns einfach gleiten", hatte sie gesagt, um dann vor Ort zu entscheiden, wozu sie Lust hat. Dort angekommen, forderte die Anstrengung der letzten Wochen ihren Tribut und Erschöpfung wie Erleichterung ob all des Zurückgelassenen zeichneten deutliche Spuren. So wurde der erste Tag vor allem gedankenversunken mit Spaziergängen bei wunderschönem Wetter verbracht. Ein kleiner Klostergarten erinnerte Siggi an ihre eigene Zeit in einem Kloster, in dem sie gelebt hatte, bevor sie in ihre spätere Pflegefamilie aufgenommen worden war. Ihr Blick über den See schien sich in den Fragen zu verlieren, die zu stellen sie vielleicht nicht mehr wagte, vielleicht auch einfach nicht wollte. Dann dachte sie wieder darüber nach, „wie viel" sie gelebt hatte und wie kraftvoll sie oft gewesen war in ihrem Leben. Und sie dachte nach darüber, wie sehr sie auf die Hilfe anderer angewiesen war und was es für sie bedeutete, sich bei diesen vielen Menschen, die sie im täglichen Leben unterstützt hatten, "emotional auf jeden einzelnen Charakter einzustellen" – ihre Abhängigkeit immer gegenwärtig.
Eine von anderen Personen kaum beeinflussbare Abhängigkeit, an deren Ursache nicht einmal sie selbst mehr etwas ändern konnte – dem Empfinden und Erleben ihres eigenen Körpers und des gleichzeitig steten Bewusstseins darum, wie zerbrechlich die immer wieder zu erkämpfende Unabhängigkeit unter Alltagsbedingungen sein kann. "Das ist mehr auf meine körperliche Verfassung zurückzuführen, dass ich so nicht weiterleben möchte. Mit den ganzen Schmerzen und dem ganzen Drum und Dran. Diese Begleiterscheinungen, weil ich das einfach kräftemäßig nicht mehr schaffe. Und das ganze Organisatorische. Dann auch mit den Helfern immer - kommt er, kommt er nicht? Weil die halt auch teilweise von weit her kommen und mir ihre Zeit zur Verfügung gestellt haben. Aber immer mit hoffentlich ... hoffentlich ... immer so in Ängsten gelebt. Hoffentlich passiert nichts... ."
Oft fürchtete sie, der jeweilige Helfer könnte einen Autounfall haben oder sonst wie verhindert sein. Und immer wieder, als werde ihr selbst noch einmal die Alternativlosigkeit ihres gewählten Weges bewusst, kamen ihr einstiger Wille, es mit dem Schicksal aufzunehmen und gleichzeitig ihr Entschluss, den fortwährenden Kampf ihres Lebens endgültig aufzugeben, zum Ausdruck. "Es gibt ein schönes Gleichnis aus der Bibel. Da kommt einer zum lieben Gott und sagt Gott, ich kann mein Kreuz nicht mehr tragen. Das ist zu schwer, zu schwer, ich schaff' es nicht mehr. Ja, sagt der liebe Gott, guck' mal, da sind ganz viele Kreuze. Stell' deines ab und dann probierst du die mal aus. Er probiert, aber das eine ist zu schwer, das nächste ist zu kantig. Dann war er gedrückt – und siehe da! Da hat er ein Kreuz gefunden und sagt: das ist ja für mich optimal. Ja, sagt der liebe Gott, das ist das Kreuz, das du eben dort abgestellt hast. Dann darfst du das noch ein bisschen weiter tragen". Und als sage sie das mehr zu sich selbst, fügte sie mit ironischem Ton hinzu: "Dann tragen wir das auch noch!" Ihre Erschöpfung war nicht zu überhören, als sie nach einigen Augenblicken hinterherseufzte: "Ich will das loswerden."
"Das ist zu schwer, ich schaff es nicht mehr."
Ihr Kreuz loszuwerden, welches ihr untragbar geworden war, dies war ihr Ziel, das sie bisweilen – wie es eben auch ihrer Natur entsprach – fast ein wenig verbissen verfolgte. Beharrlich und scheinbar zuversichtlich verlor sie dieses Ziel keinen Moment aus den Augen und schien ihre verbliebenen Reserven aufzuheben für die allerletzte Hürde, die sie auf ihrer Lebensreise noch zu nehmen hatte: Der Termin mit dem Arzt und die Entscheidung, ob das Rezept ausgestellt werden würde oder nicht. Wie oft zählte sie die Stunden. Und im nächsten Moment war es auch schon wieder da, das verschmitzte Grinsen.
Trotz der vielen Gedanken, trotz des bevorstehenden Schrittes in eine andere Welt, so hatte sie auch in diesen Tagen ihre Aufgeschlossenheit und Neugier, ihren Charme nicht verloren, mit dem sie fremde Menschen in ihren Bann zu ziehen vermochte, in ein Gespräch verwickelt, kurz: angesprochen hat. Die Bedienung eines urigen Wirtshauses hätte ihr vermutlich am dritten Abend ungefragt das richtige Gericht gereicht - Steak und Rösti – und vielleicht wird auch manch einer der einheimischen Gäste sich noch ein Weilchen dieser irgendwie vorwitzigen Dame im Rollstuhl erinnern, die unterm Spielautomaten stehend auf deren Kommandos wartete, wann eine Taste zu drücken ist. Ihre Herzlichkeit und Spontaneität waren immer noch beeindruckend.
Am Mittwoch morgen verabschiedeten Siggi und Ole sich voneinander. Ein letztes Mal hatte Ole sie am Abend ins Bett gebracht. Und auch wenn es unzählige „letzte Male" in den vergangenen Wochen gegeben hatte – ein letztes Mal den Dienstplan schreiben, ein letztes Mal den Einkauf planen, ein letztes Mal den Staubsauger benutzen, ein letztes Mal mit geliebten Menschen zu sprechen und endlich auch ein letztes Mal: der verhasste Abführtag. Ein letztes Mal „gelagert" werden, so dass sie eine einigermaßen entspannte letzte Nacht verbringen konnte, und zum allerletzten Mal an einem Morgen aus dem Bett geholt zu werden – das war mit Ole schon allein deswegen ein besonderes letztes Mal, weil er sie in den vergangen 12 Tagen ununterbrochen begleitet hatte. Er hatte mit ihr beinahe ihren gesamten Haushalt aufgelöst, Dokumente entsorgt, Gegenstände verschenkt, Listen gefertigt, was noch erledigt oder was für die Reise eingepackt werden musste, wer nach ihrem Tod angerufen werden sollte. Und das Honorar für ihre Betreuung bis zum voraussichtlichen Ende ihres Lebens hatten sie auch schon abgerechnet. Sogar an den Anisschnaps und den Magenbitter für die Reise und die letzten beiden Tage hatten sie gedacht.
Ole hatte mit seiner Härte und Kompromisslosigkeit lange Zeit einen durchaus von ihr selbst gewollten erzieherischen Effekt gehabt: Siggi trank nicht, wenn er Dienst hatte, und damit trank sie insgesamt auch weniger. Dies war vor allem erforderlich gewesen, so hatte sie mir erklärt, weil sie sonst alle Chancen, jemanden zu finden, der sie auf ihrem diesem letzten Weg begleitete und unterstützte, verwirkt hätte: "Mich hätte doch keiner ernst genommen!" Sie hatte seine Bedingungen akzeptiert, weil diese ihr nützlich waren, aber auch, weil es zunehmend schwerer geworden war, überhaupt noch Helfer zu finden. Schon bei den Vorstellungsgesprächen sei oft deutlich geworden, dass sie immer wieder eine Menge Energien dafür hatte aufbringen müssen, deutlich zu machen, dass sie selbst entscheiden wollte, wie sie ihr Leben gestaltete.
Sie waren ein eingespieltes Team, sie und Ole. Jeder Handgriff saß, wenn er sie zu Bett brachte. So konnte sie einigermaßen sicher sein, dass sie nicht eine oder zwei Stunden später nach ihm rufen musste, weil die Schulter sich verspannt hatte oder das Becken etwas zur Seite geneigt werden musste. Also hatte sie ihn gebeten, sie nun auch in der letzten Nacht ihrer letzten Reise noch einmal zu Bett zu bringen, damit sie auch diese noch einmal einigermaßen entspannt verbringen konnte. Nachdem er am Tag zuvor noch einmal deutlich gemacht hatte, dass er nicht einmal ein Gläschen zum Essen akzeptieren würde, hatten sie beschlossen, dass dies seine letzte Dienstleistung sein würde und er sie am Mittwochmorgen vor der Abreise in die Schweiz noch aus dem Bett holen, waschen und anziehen sollte. Er möge sie einfach nicht, wenn sie etwas getrunken habe, das sei nun mal so und sie könne schließlich nicht von ihm verlangen, sich dem auszusetzen, hatte er ihr auf die Frage geantwortet, warum er so kompromisslos sei. Noch vor dem Frühstück verabschiedeten wir uns am Mittwoch früh von ihm und fuhren schließlich ohne ihn weiter nach Zürich.
"Hungrig zu sterben, kam überhaupt nicht in Frage."
Es scheint beinahe unmöglich, die Stimmung dieser Fahrt zu beschreiben. Ihr Blick glich zuweilen dem eines hilfesuchenden Kindes, im nächsten Moment sah man ihr die Angst an, die der Traum in der letzten Nacht bei ihr hinterlassen hatte. Sie hatte geträumt, dass sie den Arzttermin verpasst hatte. Ihre Anspannung stieg nun ins Unerträgliche, als in der entsprechenden Arztpraxis zunächst niemand öffnete und wir zehn Minuten warten mussten. Genau die zehn Minuten, die wir zu früh waren. Pünktlich zum vereinbarten Termin kam der Arzt aus seiner Mittagspause und gewährte uns Einlass in die Praxis. Er zog sich seinen weißen Kittel über und bat Siggi, so sah es die Rechtslage vor, allein zu sich ins Sprechzimmer.
Während des Gesprächs war uns, die wir im Wartezimmer auf den Ausgang warteten, ein Mitarbeiter von Dignitas ein beruhigender Gesprächspartner in dieser unwirklichen Situation. Als die Türe des Sprechzimmers sich wieder öffnete, war die Anspannung aus Siggis Gesicht gewichen. Sie wirkte wieder größer, saß aufrechter, und beinahe lächelte sie wieder verschmitzt: Der Arzt würde das Rezept ausstellen.
Der Mitarbeiter von Dignitas hatte den Weg zur Wohnung auf einem Kalenderblatt skizziert und so begaben wir uns auf die Fahrt dorthin. Wenngleich für Siggi nun keine weiteren Hürden mehr zu befürchten waren, so kehrte auf der Fahrt durch die fremde Stadt und der Suche nach den richtigen Straßen die Anspannung wieder ein wenig zurück. Diesmal mischte sie sich mit einem Ausdruck in Siggis Augen, der an ein Kind erinnerte, das in der Erwartung des nächsten Ereignisses war, ohne auch nur eine Ahnung zu haben, welches das sein möge. In all den Jahren, die ich sie kannte, war sie mir niemals so schutzbedürftig erschienen, wie in diesem Moment. Sie gab mir zu verstehen, wie entsetzlich ihr die Vorstellung erschien, nun diese fremde Wohnung zu betreten, und diese niemals mehr zu verlassen. Außerdem hatte sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen und war hungrig – und hungrig zu sterben, kam nun überhaupt nicht in Frage.
Als wir schließlich in der Wohnung ankamen, wartete der Begleiter schon, der Siggi bis zu ihrem Tod betreuen würde. Oder bis zu ihrer Umkehr, auch diese Möglichkeit galt es noch häufig in Erinnerung zu rufen. Auf Siggis Vorschlag, zunächst kurz die Wohnung anzusehen und dann erst einmal Essen zu gehen, schien er fürs Erste verunsichert. Mit einem Kollegen wurden nun zunächst einmal Möglichkeiten ausfindig gemacht, am späten Nachmittag noch eine angemessene Mahlzeit zu sich zu nehmen. Eine Imbissstube sollte es selbstverständlich nicht sein, und mit ihrer Bitte um diese Henkersmahlzeit brachte Siggi die Anwesenden offensichtlich in Verlegenheit – wer wollte es ihnen verübeln. Schließlich fand sich ein großes Restaurant etwa einen Kilometer entfernt, und Siggi schaffte es tatsächlich den Begleiter von Dignitas zu diesem Essen einzuladen. Also, alle noch einmal ins Wohnmobil und auf zum Restaurant, wo wir ein sonderbares und herzliches, entspanntes und lustiges, interessantes und immer wieder sonderbares Essen erlebten. Nun eben auch ein letztes Steak und die letzten Rösties.
Der zuvor irritiert-distanzierte Begleiter taute während des Essens so sehr auf, dass er von Siggis Salat mitaß und ihr kurz nach Rückkehr in die Wohnung das Du anbot. Es war offensichtlich, dass das nicht alle Tage vorkam. Siggi hatte es wieder einmal geschafft, selbst in dieser Situation, mit ihrem Frohsinn und ihrem großen Herz, einen weiteren Menschen für sich zu gewinnen, der sich vermutlich noch manches Mal, an diese außergewöhnlichen Szenen erinnern wird.
In der Wohnung angekommen, setzten wir uns alle an den runden Tisch – auf "ein paar letzte Zigaretten". Die Videokamera wurde auf das Stativ geschraubt und blickte auf den Tisch und die Runde. Schließlich ergriff Siggi, an die Kamera gerichtet, ein letztes Wort.
„Einen letzten Gruß an euch alle draußen, wenn das Video fertig ist. Ich kann jetzt nicht alle beim Namen nennen, aber die mich kennen und lieben, wie‘s gemeint ist. Ich bedanke mich für eure langjährige Freundschaft, wo ihr mich begleitet habt – und in allen Höhen und Tiefen. War manchmal 'ne Kratzbürste, aber ich konnte auch ganz lieb sein. Naja, ich hab euch mit meinem Putzen manchmal in den Wahnsinn gebracht, bis zum letzten Tag, aber jetzt ist das vorbei und ich hoffe, ich habe euch allen was mit gegeben auf den Weg. So. Und jetzt wird's gleich ernst werden, aber ihr müsst nicht traurig werden, wenn dann die Party läuft, möchte ich, dass Ihr auch alle fröhlich seid. Ich bin's nämlich auch, weil ich jetzt endlich ans Ziel gekommen bin. Den Weg, den ich mir ausgewählt hab. OK? Also macht's gut, ich guck' von oben auf euch herab. So. Das war's."
Sie lacht. Ein wenig verlegen, ob des imaginären, aber auch des im Raume sitzenden Publikums, denn zunächst scheint niemand passende Worte zu finden. Doch dann erweist sich der Helfer von Dignitas von vorzüglichem Humor und fügt trocken hinzu: "Zugabe".
Alle lachen, die Anspannung ist auf der Stelle gelöst. Siggi daraufhin keck: "Zugabe?"
Ich nehme den Ball auf: "Ja, dann lass' dir mal was einfallen." Und der Dignitas-Mitarbeiter in seiner trockenen Art: "Aber keinen Stress."
Es ist kaum zu glauben, wie geradezu heiter diese letzten Minuten in Siggis leben waren. Davon zeichnete die Kamera noch einige Minuten auf, ehe es einen Schnitt gibt. Im nächsten Moment sitzt Siggi nicht mehr in ihrem Rollstuhl, sondern auf einem blauen Sofa, die Füße auf die Sitzfläche des Rollis gelegt und mit einem kleinen Gläschen in der Hand, das sie lächelnd in die Kamera blickend wie zum Anstoßen hält. Wir sitzen, zwei rechts und einer links von ihr, daneben, ungläubig auf das Geschehen blickend. Noch einmal, diesmal sachlich, fragt der Mitarbeiter von Dignitas: „Wenn Sie das trinken, werden Sie sterben. Möchten Sie das wirklich machen?" Siggis Antwort, lächelnd und bestimmt: "Ja, ich möchte." Mitarbeiter: "Wie ein Schnaps." "Natürlich: Wie´n Schnaps!" Und während Siggi das Glas zum Mund führt, blendet die Kamera aus.
"Also, jetzt geht's los!"
Am Mittwoch, dem 23. März 2005 um 20.47 Uhr, nahm Siggi das tödliche Medikament ein. Etwa zweieinhalb Minuten später spürte sie die Wirkung und sagte schon mit verwaschener Sprache: „Also, jetzt geht's los!" Noch einmal holte sie darauf hin Luft und sagte mit letzter Kraft: „Ich liebe euch." Danach atmete sie zum allerletzten Mal aus, wurde still, und ihr Blick entfernte sich aus dieser Welt, die sie um 20.50 Uhr verließ. Die Sanftheit in ihrem Gesicht, aus dem mehr und mehr das Leben entwich, wird uns vermutlich für immer im Gedächtnis bleiben.
Geradezu ausgelassen waren wir noch anderthalb Stunden zuvor in die Wohnung zurückgekehrt und hatten erst einmal an dem runden Tisch Platz genommen, an dem wir noch ungefähr eine Stunde plauderten, lachten, und Siggi schließlich- wie sollte es anders sein- nun auch noch ihre letzten Sprüche kloppte. Und nicht zu vergessen, der allerletzte Absacker.
Und bei allem vergaß sie nicht, möglichst jedes Detail dieser letzten Minuten zu steuern:
Keinesfalls würde sie in dem Bett sterben. Der rote Sessel wurde mit ihrem mitgebrachten blauen Laken überzogen und die Moltex wurde platziert. Darauf würde sie - sitzend - sterben. Und sie bestimmte den Zeitpunkt, als sie das erste Medikament einnahm, eine halbe Stunde vor Einnahme des Schlaf-und Narkosemittels Natrium-Pentobarbital, um einen Brechreiz zu verhindern. Es wird in einer so hohen Dosierung verabreicht, dass der Tod innerhalb weniger Minuten eintritt.
Nachdem Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichtsmedizin sich davon überzeugt hatten, dass alles ordnungsgemäß vonstattengegangen war, wurde Siggis Leichnam von einem Bestattungsunternehmen abgeholt und in Zürich am 1. April kremiert. Für ihre Asche hat Siggi sich einen privaten Blumengarten ausgewählt.
Filmprojekt
Mit einem Film wollte Siggi sich von ihren Helfern verabschieden und sie teilhaben lassen, an ihrer letzten Reise. Jedoch, so wie ihr Leben immer wieder von Kampf und Wirren gekennzeichnet war, konnte auch dieser Wunsch nicht so einfach umgesetzt werden. Sämtliche Videoaufnahmen, zunächst in einwandfreiem Zustand, zeigten später erhebliche Bild- und Tonstörungen, deren Ausmaß sie zum Teil völlig unbrauchbar machte. Aber die Antwort auf die Frage, wie sie wohl mit der Situation umgegangen wäre, hätte gelautet: Das Beste daraus machen. Also machten die Autoren und die Autorin des Films das Beste daraus, schnitten brauchbares Ton- und Bildmaterial zusammen, sprachen Texte und verwendeten alte Fotos um ihr Leben und ihr Sterben, ihre Geschichte zu erzählen.
Weitere Informationen zum Film können beim Autor erfragt werden.