Im elektronischen Meldesystem Critical Incident Reporting (CIRS) melden Ärzte und Pfleger, welche Missgeschicke ihnen widerfahren sind. Sie helfen damit ihren Kollegen, diese Fehler zu vermeiden. Das erfordert eine neue Offenheit.
Die OP liegt schon einige Tage zurück. Doch die Schmerzen bleiben. Deswegen wird der Patient mit Verdacht auf Veränderungen im unteren Abschnitt der Lunge geröntgt. Der Befund ist mehr oder weniger zufällig. Am Rand der Aufnahme ist im Unterbauch – auch für den Laien deutlich sichtbar – eine Klemme zu sehen. Der Chefarzt, der den operierenden Assistenten keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte, ist bestürzt. „Ich unterrichte den Patienten sofort über den Befund. Die Klemme wird unter erneuter Eröffnung der Bauchwunde entfernt. (...) Natürlich bin ich als Operateur der Verantwortliche und Schuldige. Immer wieder überlege ich, wie ich die Klemme im Bauch vergessen habe.“
So schildert der Chefarzt seinen eigenen Behandlungsfehler. 16 Mediziner und Pflegekräfte tun es ihm gleich und geben in der Broschüre des Aktionsbündnisses Patientensicherheit freimütig zu, zum Teil folgenschwere Fehler begangen zu haben. Einige bekennen, dass sie Mitschuld am Tod von Patienten tragen. Auch bekannte Gesichter finden sich in der Broschüre mit dem Titel „Aus Fehlern lernen“. Prof. Dr. Peter Sawicki, heute Chef des Kölner Instituts für Qualität und Wirtschaft in der Medizin, bekennt offen, er habe als junger Assistenzarzt den Willen einer Patientin ignoriert und sie überredet, sich operieren zu lassen. Eine Woche später sei die Patientin gestorben.
17.000 „Kunstfehler“ im Jahr in Deutschland
Die Ärzte und Pfleger in der Broschüre sind keine Minderheit. Aber sie geben zu, Fehler begangen zu haben. Ob es nun eine kleine Nachlässigkeit, eine hastig getroffene Entscheidung oder ein simples Missverständnis ist: „Kunstfehler“ führen im schlimmsten Fall zum Tod des Patienten – und das geschätzte 17.000-mal pro Jahr in Deutschland. Bislang kam das Thema unter Medizinern höchstens unter vier Augen zur Sprache. Zu viel schien für die angesehenen Ärzte auf dem Spiel zu stehen.
Das soll sich nun ändern: Enttabuisierung lautet die Devise des Aktionsbündnisses, dem neben der AOK, dem Deutschen Pflegerat, der Bundesarbeitsgemeinschaft leitender Pflegepersonen auch Kliniken wie Rhön und Vivantes, verschiedene Uniklinika, zudem Patientenorganisationen, Fachgesellschaften, Berufsverbände, Selbstverwaltung, Krankenkassen, Haftpflichtversicherer, Hersteller und Beratungsfirmen sowie praktizierende Ärzte und Wissenschaftler angehören.
„Dieses tragische Ereignis – nämlich der Tod – wäre vermeidbar gewesen“, gesteht nun eine ehemalige Krankenschwester, die sich über die Diagnose eines Patienten nicht vollends klar war. Sie hatte versäumt, sich die Krankenakte des Mannes durchzulesen, in der eine weitere Erkrankung vermerkt war. Hätte sie sich informiert, hätte sie den Mann stärker und anders überwacht.
„Könnte er noch leben, wenn ich mir über den Satz ,Irgendwas stimmt nicht‘ früher Gedanken gemacht hätte?“, treibt es einen Arzt um, der versäumt hatte, einen Patienten auf ein Karzinom hin zu untersuchen. Weltweit ereignen sich in Krankenhäusern und Arztpraxen beständig kleinere oder größere Pannen, von denen die Öffentlichkeit in der Regel nie etwas erfährt. Wie Untersuchungen in den Vereinigten Staaten ergeben haben, kommt es bei etwa drei Prozent aller Krankenhausaufenthalte zu unerwünschten Zwischenfällen. Unter Berücksichtigung, dass eine größere Klinik jährlich rund 100.000 ambulante und stationäre Behandlungen vornimmt, wird die Größenordnung dieser Fehlerquote deutlich.
Die meisten Fehltritte gehen zwar glimpflich aus, indes nicht alle. Nach Hochrechnungen in Großbritannien haben rund fünf Prozent aller medizinischen Irrtümer tödliche Konsequenzen („British Medical Journal“, Band 329, Seite 369). Zum gleichen Ergebnis kamen amerikanische Internisten um Kaveh Shojania von der Universität in San Francisco, nachdem sie alle relevanten Autopsiestudien der vergangenen 40 Jahre ausgewertet hatten. Wie sie in der Zeitschrift der amerikanischen Medizingesellschaft („Jama“, Band 289, Seite 2849) schreiben, förderten die Obduktionen in rund einem Viertel der Fälle schwere diagnostische Fehler zutage. Bei neun Prozent der Verstorbenen sei die falsche Diagnose ganz oder teilweise für das tödliche Ereignis verantwortlich gewesen.
Prof. Dr. Matthias Schrappe, Facharzt für Innere Medizin und Mitglied des Geschäftsführenden Vorstandes des Aktionsbündnisses Patientensicherheit, unterscheidet zwischen „unerwünschten Ereignissen“, wie zum Beispiel einer Penicillin-Allergie beim Patienten, und „negativen Ereignissen“, bei denen ein Patient durch einen Behandlungsfehler zu Schaden kommt. Solche „Ereignisse“, sagt Schrappe, seien häufig auf Kommunikationsdefizite, aber auch Organisationsfehler zurückzuführen: unklare Zuständigkeiten, keine Anweisungen, falsch ausgestellte Dienstpläne. Dies seien Fehlerquellen im Alltag, die zu einer „Verkettung unglücklicher Umstände“ führen können: falsche OP-Tafel, falscher Patient operiert. Etwa 100-mal im Jahr komme es hierzulande zu Patientenverwechslungen und Rechts-Links-Vertauschungen. Ein großes Problem sei außerdem die Hygiene in deutschen Krankenhäusern. So soll mit der Aktion „Saubere Hände“ der Vielzahl an Infektionen in Kliniken entgegengewirkt werden.
Gut möglich, dass das Wort „Kunstfehler“ in einem Jahrzehnt aus dem Sprachschatz verschwunden ist, denn es verharmlost. „Kunstfehler“ bedeutet nicht, dass ein Maler beim Porträt die falschen Farben gewählt hat. Damit wird beschämt zugegeben, Leben oder Gesundheit eines Menschen aufs Spiel gesetzt zu haben.
Die Medizin lernt von der Luftfahrt
Wenn ein Flugzeug abstürzt, wird versucht, die Ursachen dafür lückenlos zu klären. Ist beispielsweise ein gelbes Kabel mit einem anderen verwechselt worden und hat deswegen zum Ausfall von Bordsystemen geführt, dann ist in der Luftfahrt die Konsequenz klar: In allen Flugzeugen dieser Bauart wird das gelbe Kabel gegen ein rotes ausgetauscht. Weltweit zugängige Datenbanken weisen die Wartungstechniker an, sofort technische Änderungen umzusetzen. Das führt zu immer größerer Sicherheit im Flugverkehr. Davon lernt jetzt die Medizin – mit systematischen Anreizen zur Fehlervermeidung wie etwa Checklisten. Aber auch mit dem Fehlermeldesystem Critical Incident Reporting (CIRS) – so etwas wie die Datenbank der Flugzeug-Techniker. Krankenhäuser sollten CIRS in ihr Risikomanagement einbauen. Dann erlaubt CIRS, kritische Ereignisse zu erkennen, sie zu analysieren und mögliche Schäden durch Vorsorgungen zu vermindern.
Die Sicherheit von Patienten lässt sich durch das systematische Aufspüren von Fehlerquellen deutlich erhöhen. Darin waren sich die mehr als 300 Teilnehmer des 1. Nationalen CIRS-Forums im September vergangenen Jahres in Berlin einig. Referenten und Anwender zogen eine Zwischenbilanz ihrer Bemühungen, Fehlerberichtssysteme im Krankenhaus einzuführen.
Den Experten wurde klar, dass es unterschiedliche Ausformungen von Berichtssystemen gibt. Mit der Veranstaltung, vom Aktionsbündnis Patientensicherheit, der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), der Gesellschaft für Risiko-Beratung (GRB) und dem Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) getragen, wurde den Krankenhäusern eine Plattform für den Austausch zum Thema CIRS gegeben. DKG-Hauptgeschäftsführer Georg Baum nannte in einer Erklärung die „Rückkoppelung im Sinne eines gegenseitig voneinander Lernens“ und die Einbindung in andere, im Krankenhaus installierte Systeme als Voraussetzung für das Funktionieren von CIRS. Die DKG unterstütze konzeptionell und finanziell den Aufbau eines nationalen CIRS-Netzes in Deutschland, weil dies den Patienten unmittelbar zugutekomme.
CIRS-Datenbank: Anonym und ohne Schuldzuweisungen
„Wir wollen nicht, dass einem anderen Kollegen und Patienten das gleiche Vermeidbare widerfährt“, sagt Dr. Christian Thomeczek, Leiter des ÄZQ. Seit fünf Jahren entwickeln Thomeczek und seine Mitarbeiter ein nationales CIRS-Portal. 300 Fälle, mithilfe derer andere Ärzte und Pfleger lernen können, hat er in dem per Web zugänglichen Computersystem gespeichert. „In unserem CIRS tauchen keine medizinischen Schäden auf, die nicht geklärt sind“, sagt Thomeczek. Wenn ein Pfleger oder Arzt sich entschließt, seinen Fehler publik zu machen, dann setzt er sich selbst an den Computer und beschreibt, wie es so weit kommen konnte. Bevor der Fall für jeden Klinikmitarbeiter sichtbar wird, achtet das Team um Thomeczek darauf, dass der Fall anonymisiert ist. „Es sollten möglichst keine Rückschlüsse auf eine bestimmte Person gezogen werden, denn wir wollen niemanden anprangern“, sagt Thomeczek.
CIRS dürfe nicht dazu missbraucht werden, indem unzufriedene Mitarbeiter ihre Frustrationen darin abzulassen suchten. Auch Schuldzuweisungen würden eliminiert. „Der Eingebende muss das Gefühl haben, gut beraten zu werden, und auch die Gewissheit, dass sein Fehler dazu führt, dass andere daraus lernen und selbst Dinge ändern.“ Deswegen kommentieren Thomeczeks Fachleute jeden Lapsus und verweisen auf andere Fälle. Im System findet sich auch immer ein „Fall des Monats“, der besonders viele Mediziner und Pfleger betreffen könnte.
Dieser zeigt beispielsweise für den Januar 2010, wie es zu einer Überdosierung des unter dem Betäubungsmittelgesetz stehenden Schmerzmittels Fentanyl kommen konnte. Der Fehler blieb für den Patienten fast folgenfrei, weil er wegen seiner schweren Erkrankung an Opiate gewöhnt ist. Wäre er dies nicht, hätte er an der Überdosierung möglicherweise sterben können. Überhaupt aufgefallen ist die Überdosierung nur, weil der Patient tagelang über eine rätselhafte Verstopfung klagte – eine Nebenwirkung der Opiate, die bei der fehlerhaften Dosisüberhöhung für heftige Probleme beim Stuhlgang sorgt.
Probleme mit einfachen Mitteln eliminieren
Ein anderer Fall im CIRS-System zeigt, wie einfach Fehler vermieden werden können, wenn jeder Facharzt wüsste, wie: So löste sich etwa das Pflaster an einem Tubus für die Beatmung eines Frühgeborenen mit der Folge, dass der Tubus herausrutschte. Die Analyse der Fehlermeldung ergab, dass das Krankenhaus Pflaster verwendete, die in feuchter Umgebung nicht richtig kleben. Indem sofort Pflaster gekauft wurden, die auch bei Feuchtigkeit kleben, wurde das Problem auf einfache Weise gelöst.
„In den Krankenhäusern müssen die Verwaltungschefs und die Chefärzte von CIRS überzeugt sein“, sagt Thomeczek. „Wir empfehlen dem Management, mit Schwestern, Pflegern und Ärzten eine Betriebsvereinbarung zu schließen“, sagt der CIRS-Spezialist. Dort werde beispielsweise geregelt, dass eine Vertrauensperson die Meldungen des Krankenhauses durchschaut und anonymisiert. Wer einen Fehler begangen habe und ihn künftig vermeiden wolle, dürfe nicht arbeitsrechtlich verfolgt werden. „CIRS lohnt sich“, sagt er und verweist darauf, dass die Software fürs gesamte Krankenhaus lediglich etwa 1.000 Euro kostet. Hinzu kämen Nutzungsgebühren von 300 Euro jährlich. „Das ist, gemessen am Erfolg, eine lächerlich geringe Investition“, sagt Thomeczek. „CIRS kostet aber Arbeitszeit, dessen muss man sich bewusst sein.“
Zum Fehlermanagement mit CIRS gehört auch, die Patienten einzubinden. „Vor dem Eingriff werden Sie mehrfach nach Ihrem Namen, Ihrem Geburtsdatum und Ihrem Eingriff befragt“, heißt es in einer Patienten-Broschüre.
Das Aktionsbündnis Patientensicherheit (www.aktionsbuendnis-patientensicherheit.de) unterstützt Kliniken unentgeltlich mit Informationsmaterialien zur Einführung von CIRS. Zusätzlich gibt es Hintergrundinformationen und praktische CIRS-Implementierungshilfen.
Die ersten CIRS-Systeme wurden im Jahr 2004 in der Schweiz installiert. Anästhesisten um Prof. Dr. Daniel Scheidegger vom Universitätsspital in Basel veröffentlichten unter der Internet-Adresse www.cirsmedical.ch ein Meldeformular, das bewusst knapp gehalten war, um den Arbeitsaufwand zu begrenzen. Andere medizinische Fachgruppen der Schweiz übernahmen das CIRS des Baseler Anästhesisten. In England und Wales installierte der staatliche Gesundheitsdienst im gleichen Jahr ein zentrales Fehlermeldesystem, das landesweit allen medizinischen Berufsgruppen zur Verfügung steht und in regelmäßigen Ab- ständen ausgewertet wird.
Unfälle im OP sind selten die Schuld eines Einzelnen
Auswertungen des National Health Service auf der Insel zeigen, dass rund 80 Prozent der Irrtümer auf menschlichem Versagen beruhen. Zu den auslösenden Faktoren zählen etwa übermäßige Arbeitsbelastung, zu wenig Schlaf, Differenzen innerhalb der Gruppe, persönliche Schwierigkeiten und – mit Abstand am häufigsten – Unzulänglichkeiten in der Kommunikation.
Im Cockpit wie in der Medizin gehen Unfälle nur sehr selten auf das Fehlverhalten Einzelner zurück. Vielmehr ist es meist eine Kette von kritischen Ereignissen, die das Desaster verursachen. Verantwortlich sind hierfür für gewöhnlich Schwächen des Systems, etwa schlechte Vorbereitung, mangelhafte Organisation oder unzureichende Kontrolle der Abläufe. Darauf wies Klaus Scheppokat von der Norddeutschen Schlichtungsstelle in einem Beitrag im „Deutschen Ärzteblatt“ hin (Band 101, Seite A998).
Nicht nur in Krankenhäusern, auch in Arztpraxen werden Irrtümer begangen. Wie groß die Fehlerrate hier ist und welche Art von Pannen auftreten, wollten Wissenschaftler um Prof. Dr. Ferdinand Gerlach vom Institut für Allgemeinmedizin der Universität in Kiel herausfinden. An der internationalen Pilotstudie haben sich weltweit hundert Hausarztpraxen, darunter 24 deutsche, beteiligt. Jeder Teilnehmer wurde mit einem elektronischen Meldesystem ausgestattet, in das er unerwünschte Zwischenfälle eintragen konnte. Die Ergebnisse der Pilotstudie sind in der „Zeitschrift für Allgemeinmedizin“ (Band 79, Seite 327) veröffentlicht worden.
Während eines Zeitraums von rund fünf Monaten wurden demnach insgesamt 605 Pannen im CIRS-System gemeldet. Administrative Mängel erwiesen sich dabei als die häufigste Fehlerquelle, gefolgt von Irrtümern bei der Diagnose und der Therapie. Was die Behandlungsfehler angeht, betrafen diese vorwiegend die Anwendung von Medikamenten.
Unter der Überschrift „Irren ist menschlich – daraus lernen lebensrettend“ veröffentlichte das Deutsche Ärzteblatt einen Artikel über Auswertungen von CIRS-Meldungen bei Injektionen und Infusionen im Krankenhaus (Heft 16 vom 17. April 2009). Darin wurden die Meldungen von Mitarbeitern aus 113 Intensivstationen in 27 Ländern erfasst. Die Fehlerrate bei Spritzen und Infusionen stieg in Abhängigkeit von der Größe der Intensivstation, der Anzahl der betreuten Patienten, der Anzahl der Organschäden sowie der Menge der intravenösen Medikamentengaben.
Kaum Missgeschicke bei Notfällen, sondern bei Routineprozessen
Die Belegung der Stationen, aber noch mehr die Häufigkeit von Aufnahmen und Verlegungen waren ebenfalls Risikofaktoren für das Auftreten von Fehlern bei der Medikamentengabe. Interessant: Die meisten Fehler traten bei der Routinebehandlung und nicht in Notfallsituationen auf. Schon relativ einfache Prozessänderungen, wie regelmäßig die Medikation beim Schichtwechsel („double check“) zu kontrollieren, reduzierten die Fehlerhäufigkeit drastisch. Überraschend ist, dass die Medikamentenzubereitung durch die Apotheke – im Gegensatz zur Zubereitung durch das Pflegepersonal – zu einer signifikanten Häufung von Fehlern führt. „Diese Tatsache kann nur als Beweis für die erhöhte Fehleranfälligkeit komplexer Systeme (Station – Apotheke – Station) gewertet werden“, schreibt das Ärzteblatt.
Auf den Intensivstationen, die CIRS eingeführt haben, hat sich nach den Erkenntnissen der Autoren Prof. Dr. Michael Zenz und Dr. Thomas Weiß die Fehlerhäufigkeit ebenfalls deutlich reduziert. Sie resümieren: „Anscheinend ist die Kultur im Umgang mit Fehlern ein wichtiger Faktor, der die Sicherheit für die Patienten erhöht.“