• Hygiene

Dekubituseinschätzung in der häuslichen Pflege: Der Einsatz von Skalen ist weiterhin sinnvoll

    Seit einiger Zeit werden Sinn und Zweck von Risikoskalen zur Begründung von Maßnahmen der Dekubitusprophylaxe sehr kontrovers diskutiert. Dabei gerät die Zielsetzung der Autoren – hier Barbara Braden – aus dem Blickfeld. Ihr Anliegen war und ist es, die für die Pflege eines Patienten zuständigen Personen für die bestehenden Risiken zu sensibilisieren. Skalen sind didaktische Hilfsmittel Die entworfenen Skalen zur Dekubitusprophylaxe waren und sind didaktische Hilfsmittel, anhand derer für jeden Patienten individuell die Faktoren identifiziert werden können, die für ihn das Entstehen eines Dekubitus begünstigen. Die resultierenden Maßnahmen sind in erster Linie Maßnahmen der Grundpflege, denn es handelt sich um Lagerungstechniken, das Trockenhalten der Haut, Förderung von Aktivität und Mobilität sowie eine entsprechende Ernährung. Der Faktor Reibungs- und Scherkräfte ist naturgemäß eng mit dem der Lagerung verbunden.   Barbara Braden entwickelte ihre auch heute noch verwendete Skala für die häusliche Krankenpflege bereits 1983 als Teil eines Projekts zur Verbesserung der häuslichen Pflege durch pflegewissenschaftliche Untersuchungen (1).   Anforderungen, die ein Hilfsmittel zur Identifikation von Risiken erfüllen muss Bereits 1983 stand die Kostenfrage im Vordergrund. Des Weiteren muss ein Instrument zur Risikoeinschätzung folgende Anforderungen erfüllen: - hohe Zuverlässigkeit, das heißt, unterschiedliche Anwender müssen bei demselben Patienten zum selben Ergebnis kommen - keine Invasivität, das heißt, es greift nicht in die bestehende Organisation ein - hohe Validität, also mögliche Nachweisführung der Wirkung durch wissenschaftliche Untersuchungen auch unter klinischpflegerischen Bedingungen leicht handhabbar.   Diese Kriterien erfüllt die Braden-Skala, die zwischenzeitlich umfassend und international geprüft wurde, auch heute noch. Es handelt sich um ein einfaches, sicheres Arbeitsmittel, das insbesondere geeignet ist, bestehende Risiken früh zu identifizieren und die zur Linderung der Risiken erforderlichen Pflegemaßnahmen einzuleiten. Das bedeutet auch: Die BradenSkala ist eine risikoorientierte Skala, mit der die häufigsten Defizite in den sechs Lebensbereichen:  - sensorische Wahrnehmung,  - Nässeempfinden,  - Aktivität,  - Mobilität,  - Ernährung und  - Reibungs- und Scherkräfte beim Patienten individuell benannt werden. Pflegepersonen müssen sie entsprechend substituieren, also ausgleichen beziehungsweise ergänzen.    Müssen Dekubitusrisiken bei jedem Patienten ermittelt werden? Die Antwort ist: im Prinzip nein. Die automatische Ermittlung von Dekubitusrisiken ohne Berücksichtigung des Allgemeinzustandes führt zu unnötigem Zeitaufwand. Ein Beispiel aus der Klinik: Bei einem jungen Patienten, der zur diagnostischen Abklärung kommt und nur 24 Stunden in der Klinik bleibt, besteht ein wesentlich geringeres Risiko als bei einem 80-Jährigen mit einem Knochenbruch, der in der Klinik behandelt werden muss und bettlägerig ist. Damit ist das hauptsächliche Dekubitusrisiko benannt: Immobilität in Verbindung mit mangelhafter Aktivität. Hier besteht der deutliche Unterschied zur häuslichen Pflege, bei der die Mehrzahl der Betroffenen immobil und/oder inaktiv ist. Daher muss in der häuslichen Pflege praktisch bei jedem Besuch die Situation des Patienten neu eingeschätzt werden. Die Pflegemaßnahmen sind der Situation anzupassen. Professionell arbeitende Pflegepersonen kennen die bestehenden Risiken und stellen Hautveränderungen beispielsweise während der Ganzkörperpflege fest, sodass sie anschließend im Pflegeplan eine entsprechende Eintragung hinterlegen können – auch ohne eine Skala zu benutzen. Der Zweck von Skalen ist hier die Schulung neuer Mitarbeiter und der Angehörigen, denen der Umgang mit Risikopatienten zunächst nicht geläufig ist. Jede Hautirritation muss adäquat behandelt werden, sei es zunächst hilfsweise durch Druckentlastung, sei es durch Aktivierung und Mobilisation (soweit möglich), sei es durch zielgerichtete Hautpflege – in Abstimmung mit dem behandelnden Arzt. Es geht also bei der Risikoeinschätzung im Ergebnis um erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber dem gefährdeten Patienten, damit sich das Risiko nicht in Form eines Dekubitus verwirklicht.   Nässe ist kein Dekubitusrisiko Nach internationalem Standard ist der Dekubitus eine durch Druckeinwirkung entstandene Haut- und Gewebeschädigung. Nässe, aber auch Wärme können das Entstehen eines Dekubitus jedoch begünstigen. Daher wird Nässe als begünstigender Faktor von allen Autoren aufgeführt und in Abbildung 1, zusätzlich unter „Sensorische Wahrnehmung" zitiert. Schaut man sich in Deutschland gefällte sogenannte Dekubitusurteile an, ist festzustellen, dass nicht behandelte Nässeeinwirkung mit ursächlich für das Entstehen der chronifizierenden Wunde war. Dieses Phänomen ist seit etwa 400 Jahren bekannt. Der deutsche Wundarzt Wilhelm Fabry (1560–1634) aus Hilden beschrieb bereits im frühen 17. Jahrhundert in seinen sogenannten „Observationes" (2) am Beispiel eines Patienten mit sturzbedingter Paraplegie vom Nabel bis zu den Füßen Folgendes:   „Es ist aber der Vernunft gemäß, dass nit der halbe Schlag oder Paralysis sondern das lange Ligen und Auslauffen des Harns die Ursach des Brands gewesen seye. Dann der Harn welcher ausgetröpfelt und wegen stethen Ligens auf den Rucken erhitzt und scharpf geworden, hat die Haut schwierig gemacht, daher ist eine Entzündung un Zulauff der Feuchtigkeit entstanden.. Aber weil der Leib von den Lenden biß auf die Füße der Geister des Hirns oder Spiritus animalis und derowegen auch der Empfindlichkeit beraubt war, so ist er schwer und unbeweglich worden von wegen des stethen Liegens auf dem Rucken und des schweren Gewichts des Leibes sind die hindere Backen steths gedruckt, erhitzt und von Excrementen befeuchtet worden, daher ist der heisse Brand kommen; Und darf sich niemand darüber verwundern, dann wir sehen gar oft in langwierigen Krankheiten, daß das Sterzbein allein schwierig sondern auch vom heissen Brand ergriffen wird, wie wir in der Observation des Ersten Hunderts weitläufiger mit einem Exempel erkläret haben."   Diese ausführliche Beschreibung physiologischer Grundlagen vor der Entdeckung des Blutkreislaufs durch Harvey 1649 und der arteriovenösen Verbindungen durch Malpighi (1661) rechtfertigt auch heute noch den Hinweis auf Nässeeinwirkung im Zusammenhang mit der Entstehung chronifizierender Wunden unter dem Aspekt der sensorischen Wahrnehmung. Würde nämlich ein Patient Nässe empfinden, so könnte er dies den Pflegepersonen ebenso mitteilen wie Missempfindungen durch Druck. Ist aber die sensorische Wahrnehmung hinsichtlich des Drucks gestört, so ist sie es auch hinsichtlich der Co-Faktoren Nässe und Wärme. Die Aufmerksamkeit muss zwingend auch auf sie gerichtet sein, entsprechende Probleme, zum Beispiel undichte Blasenkatheter, sind umgehend zu beheben.   Risikoskalen sind erforderlich Die Autoren der Skalen – auch der Braden-Skala – sehen die Notwendigkeit, das Problembe-wusstsein der Mitarbeiter auch für offenbar gering gefährdete Patienten sowie die einzelnen Risikofaktoren zu schärfen. Das heißt: Erfahrene Pflegepersonen und deren Hilfskräfte sind in der Lage, Risiken und Zustandsänderungen während der Körperpflege wahrzunehmen und die entsprechenden zielorientierten Maßnahmen, zum Beispiel Remobilisation, Fersenschutz, Vermeiden von Druck, Feuchtigkeit, Ernährungsmängeln, Reibung und Scherkräfte, Hautpflege – durchzuführen und für den Pflegeplan in die Wege zu leiten. Lagerungspläne orientieren sich am Zustand des Patienten, sodass angegebene Zeiten – etwa Zwei-Stunden-Intervalle – nur Vorschläge sein können, nicht jedoch absolute Rhythmen. Die Arbeit mit Risikoskalen ist weiterhin sinnvoll, wenn sie gezielt eingesetzt werden. Anhand definierter Risiken lassen sich Pflegesituationen erklären und Pflegemaßnahmen abrechnungs-fähig begründen. Darauf kommt es in der häuslichen Pflege besonders an. Die Frage, ob mit Hilfe des Einsatzes von Skalen ein Dekubitus vermieden werden kann, ist in dieser Form falsch gestellt. Nicht die begründet eine verbesserte Pflegequalität, sondern das aufgrund des Verwendens eines Rasters geschärfte Problembewusstsein der Mitarbeiter – und in der häuslichen Pflege auch der Angehörigen. Und das Schärfen des Problembewusstseins, das heißt Schaffen einer erhöhten Aufmerksamkeit, ist das Anliegen der Autoren.   Anmerkungen: (1) Nach einem Workshop 2001 mit den entsprechenden Unterlagen (2) Fabry erwähnt an keiner Stelle seines umfangreichen Werkes „De Gangraena et Sphacelo – Von dem heissen und vom kalten Brand" den Begriff Dekubitus. Er stellt aber in seinen „Observationes" mehrere Krankengeschichten vor, die aus heutiger Sicht den Dekubitus – auch den Fersendekubitus – beschreiben. Fabry differenziert die Gangräne nicht nur in heiß und kalt (aus heutiger Sicht in feucht und trocken), sondern auch nach ihren Ursachen, z.B. Minderdurchblutung, Nässe, Druck, Quetsch und Schussverletzungen. Die Erstausgabe stammt von 1593 und kann wie die weiteren im FabryMuseum Hilden bzw. nach Absprache im Stadtarchiv Hilden bestaunt werden, ebenso die von Fabry entwickelten Instrumente (s.a. www.wilhelm-fabry-museum.de.)  


 

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