Dr. Stefan Etgeton, Leiter des Fachbereichs Gesundheit und Ernährung beim Verbraucherzentrale Bundesverband, spricht über die Pläne der schwarz-gelben Koalition zur Reform der Pflegeversicherung und darüber, was sich am System ändern muss, damit Pflege auch in Zukunft bezahlbar bleibt.
Bundesgesundheitsminister Rösler will eine zusätzliche kapitalgedeckte Pflegeversicherung einführen. Wie bewerten Sie diesen Plan?
Im jetzigen System des lohnbezogenen Umlageverfahrens werden die laufenden Pflegekosten über aktuell einbezahlte Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer finanziert. Die individuelle Kapitalstockbildung, wie sie die Regierung plant, ist eine „kleine Kopfpauschale“ und stellt daher eine teilweise Abkehr vom bisherigen System dar. Die Versicherten müssten für das Risiko der eigenen Pflegebedürftigkeit eine vermutlich private Zusatzversicherung abschließen. Die individuelle Leistungsfähigkeit des Versicherten würde dann nicht mehr berücksichtigt werden. Ob diese Ansparungen nur bei der privaten Versicherungswirtschaft oder auch bei den Pflegekassen erfolgen sollen, ist bislang unklar. Einer kollektiven Kapitalstockbildung bei den gesetzlichen Kassen wird auch der Einwand der mangelnden Sicherheit entgegen gehalten, da diese den Begehrlichkeiten der Politik ausgesetzt sind - besonders in Krisenzeiten. Zudem ist unbestritten, dass Einlagen dieser Art auf dem Kapitalmarkt, mit Blick etwa auf die US-amerikanischen Erfahrungen mit Pensions- und Rentenkassen, höchst anfällig für die Risiken der Finanzmarktentwicklungen sind. Außerdem wären bei einer privaten Versicherung – gerechnet wird mit 15 bis 17 Euro pro Monat – der Ertrag im Vergleich zu den anfallenden Verwaltungs- und Vermittlungskosten eher gering.
Ein weiterer Nachteil der privaten Pflegeversicherung ist, dass der Versicherte dauerhaft an die Versicherung gebunden ist und somit seine Mobilität auf dem Versicherungsmarkt eingeschränkt ist.
Meiner Meinung nach sollte man sich daher zur Finanzierung der künftig zu erwartenden Kostensteigerungen in der Pflege von den Vereinbarungen des Koalitionsvertrags lösen und ernsthaft über Alternativen zur individualisierten Kapitaldeckung nachdenken.
Wie könnten diese Alternativen aussehen?
Das bisherige System der Pflegeversicherung – also die alleinige Bezugnahme auf Erwerbseinkommen bei der Finanzierung der Pflege – greift in Zukunft wahrscheinlich zu kurz. Der Anteil regulärer sozialversicherungspflichtiger Arbeitsverhältnisse wird weiter sinken, weil die Bevölkerung altert und in den nächsten drei bis vier Jahrzehnten um etwa 15 Prozent schrumpft. Man muss also prüfen, wie man künftig weitere Einkommensarten, zum Beispiel Kapitaleinkünfte, in die Beitragsbemessung einbeziehen kann. Auch sollte aus meiner Sicht die Idee der Dualität sozialer und privater Pflegepflichtversicherung nicht für unantastbar erklärt werden. Immerhin sammelt die private Pflegeversicherung seit Jahren erhebliche Überschüsse an. Ein besserer Ausgleich der verschiedenen Risiken in einem einheitlichen Versicherungssystem würde zugleich die Nachhaltigkeit und die Solidarität erhöhen. Eine gesetzlich verankerte Finanzierungssäule der Pflegeversicherung aus Steuermitteln kann schließlich auch erforderlich sein, um neben moderaten Beitragssteigerungen eine nachhaltige Finanzierung zu gewährleisten. All das sind Optionen, die man als Alternative zur privaten Kapitaldeckung ernsthaft und ohne Vorurteile prüfen sollte.
Sozialverbände kritisieren, die Pläne der schwarz-gelben Koalition seien verantwortungslos, die Opposition warnt gar vor einer „Zwei-Klassen-Pflege“. Ist die Kritik berechtigt?
Die Pflegeversicherung ist von Beginn an eine Art Teilkasko-Versicherung – sie stellt also nur eine Teilfinanzierung der Kosten zur Verfügung. Es war daher immer schon eine Frage der individuellen Finanzkraft der Pflegebedürftigen beziehungsweise ihrer Angehörigen, welches Niveau der Pflege sie sich leisten können. Daran wird sich durch einen individualisierten Kapitalstock nichts ändern, aber es wird sicher auch nicht besser. Das Gerede von der "Zwei-Klassen-Pflege" geht am Kern des Problems vorbei und führt die Leute eher in die Irre. Immerhin nimmt sich die Koalition des Problems an, dass die Schere zwischen Bedarf und Finanzbasis in den kommenden Jahren und Jahrzehnten immer weiter auseinander geht. Davor kann die Politik nicht die Augen verschließen. Von „Verantwortungslosigkeit“ der Regierung würde ich also nicht sprechen – über die im Koalitionsvertrag vorgeschlagene Lösung kann man aber natürlich streiten. Bisher war es so, dass sich die solidarische Pflegeversicherung durch eine gemeinsame Absicherung des Risikos aller – also Arbeitgeber und Arbeitnehmer – unter Berücksichtigung der individuellen wirtschaftlichen Situation auszeichnete. Die individualisierte Kapitalstockbildung, wie sie im Koalitionsvertrag vereinbart ist, führt zu einer teilweisen Entsolidarisierung, da die persönliche Leistungsfähigkeit der Versicherungsnehmer unberücksichtigt bleibt. Das kann und sollte man durchaus kritisieren.
Unklar ist auch, wie der dann erforderliche Sozialausgleich gestaltet und finanziert werden soll. Im Falle des Risikoeintritts wird das angesparte Kapital häufig zur angemessenen Ergänzung der gesetzlichen Leistungen nicht ausreichen. Je älter der Versicherungsnehmer ist, wenn er mit Kapitalbildung beginnt, desto geringer fällt also eine relevante Ansparung aus.
Die Einführung einer individualisierten Kapitaldeckung in der Pflegeversicherung ist also nicht geeignet, Probleme zu lösen - sondern eher, neue zu schaffen.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Etgeton.
Die Fragen stellte Stephan Lücke.