• Praxis
Organspende - Interview mit Prof. Dr. Günter Kirste

„Es werden längst nicht alle potenziellen Spender erkannt"

 

 

Prof. Dr. Günter Kirste ist der Medizinische Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO). Wir sprachen mit ihm über das Transplantationsgesetz, die Sicherheit der Hirntoddiagnostik und die Rolle des Pflegepersonals bei der Organspende.
 

Einige Politiker haben für die Organspende eine Widerspruchslösung vorgeschlagen. Das bedeutet, eine Organentnahme bei einem hirntoten Patienten wäre möglich, wenn der Hirntote dem nicht zu Lebzeiten widersprochen hat. Was denken Sie darüber?
Prof. Kirste:
Wahrscheinlich gehen die meisten Menschen mit Fragen, die das Ende des Lebens betreffen, relativ irrational um. Auf der einen Seite sagen sie: „Ich habe Angst vor der Organspende, weil ich befürchte, es wird dann nicht mehr alles für mich getan." Auf der anderen Seite unterschreiben sie Patientenverfügungen, in denen sie ausdrücklich die Therapie am Ende ihres Lebens einschränken. Eine Widerspruchslösung wäre aber kein Allheilmittel. Es gibt so viele Verbesserungsvorschläge, was die Organspende betrifft. Wir müssen vor allem die Strukturen verbessern und erreichen, dass die Krankenhäuser auch wirklich alle Fälle melden, in denen der Hirntod eingetreten ist. Todesfallstatistiken zeigen: Es gibt pro Million Einwohner in Deutschland jährlich geschätzte 40 Fälle von Hirntod, aber real haben wir nur 15,9 Spender pro Million Einwohner. Es werden also längst nicht alle potenziellen Spender erkannt beziehungsweise wir darüber informiert.

Woran könnte das liegen?
Prof. Kirste: Das Personal ist überlastet. Wenn ein einziger Arzt auf einer Intensivstation 25 Patienten betreut, bleibt keine Zeit. Es gibt aber auch Häuser, die sehr intensiv und gut mit uns zusammen arbeiten.

Halten Sie es für möglich, dass es sich für ein Haus unter Umständen finanziell nicht rentiert, einen Fall zu melden, oder dass eine fehlende Bettenkapazität gegen eine Meldung spricht?
Prof. Kirste: Es gibt bundesweit einen Mangel an Intensivbetten, das ist sicherlich ein Problem. Aber was die finanzielle Seite betrifft, hat eine Universitätsklinik im Jahr einen Etat von mehreren hundert Millionen Euro. Da spielt die Frage nach einem Organspender mehr oder weniger im Hinblick auf das Budget kaum eine Rolle. Auch für kleinere Häuser kann die finanzielle Seite kein entscheidender Grund sein, einen Hirntod nicht zu melden. Da gibt es vielleicht pro Jahr nur einen oder zwei Fälle. Die Meldung ist außerdem eine Verpflichtung. Krankenhäuser müssen vieles tun, ohne danach zu fragen, wie viel Geld sie dafür bekommen. Es ist sicher nicht so, dass Häuser Fälle von Hirntod nicht melden, weil das so schlecht bezahlt wird. Das finanzielle Argument wird aber immer wieder gebracht. Derzeit läuft daher eine Kalkulation, in der neu berechnet wird, wie hoch die Kosten tatsächlich sind. Dann wird das entsprechend angepasst.

Wer erkennt in der Regel einen möglichen Organspender?
Prof. Kirste: Die entscheidende erste Phase einer Organspende findet auf der Intensivstation statt. Dort liegt der mögliche Organspender. Es ist Aufgabe des Personals, der Ärzte und der Intensivpflegenden, diese Fälle zu erkennen. Ich habe den Eindruck, es gibt eine Fülle von Krankenhäusern, wo das Pflegepersonal inzwischen besser geschult ist, als die Ärzte es sind. Dort weisen also zuerst Pflegekräfte auf mögliche Fälle von Organspende hin. Sie haben außerdem meist eine besondere menschliche Bindung zu den Angehörigen, weil sie sehr viel mehr Zeit am Patientenbett verbringen als die Ärzte. Ich halte es daher für sehr gut, wenn Pflegepersonal bei den Gesprächen mit den Angehörigen miteinbezogen wird. Formal gesehen muss ein Arzt dabei sein. Menschlich gesehen ist die Anwesenheit einer Schwester manchmal wichtiger. Ganz schlimm wäre, wenn Angehörige im Vorfeld verzweifelt versucht haben, mit einem Arzt zu sprechen und plötzlich kommt einer und sagt: „Ihr Bruder ist tot, wir wollen ihm die Niere entnehmen." Das wäre ein Desaster.

Die Explantation führen Ärzte aus speziellen Transplantationszentren durch. Dabei assistieren ihnen Pflegekräfte aus der Klinik, in der der Organspender liegt. Stellt das nicht eine große Belastung für das Personal dar, weil es unter Umständen unvorbereitet der Ausnahmesituation ausgesetzt ist?
Prof. Kirste:
Eine Organspende stellt eine schwierige Phase dar, in der jeder seine eigenen Ängste und seine eigenen Zweifel hat und damit auch Schwierigkeiten im Umgang mit der Situation. Wir versuchen, entsprechende Fortbildungen anzubieten, um das Personal auf diese Situationen vorzubereiten. In den großen Krankenhäusern können wir das umsetzen, denke ich. In kleineren Häusern, wo solche Fälle sehr selten auftreten, kann es vorkommen, dass das Personal relativ abrupt mit dieser Situation konfrontiert wird. Deshalb empfehlen wir immer, frühzeitig einen unserer Koordinatoren hinzuzuziehen. Er bereitet alle, die an dem Prozess beteiligt sind, entsprechend darauf vor. Die Tätigkeit dieser Koordinatoren wird in Evaluierungen sehr positiv beurteilt.

Die Bundesregierung möchte das Transplantationsgesetz dahingehend ändern, dass Krankenhäuser verpflichtet werden, einen Transplantationsbeauftragten zu bestellen. Welche Vorteile bringt das?
Prof. Kirste: Diese Gesetzesänderung ist in einem Kabinettsentwurf enthalten. Der muss aber erst noch durch das parlamentarische Verfahren. Das ist also noch nicht entschieden. Der Vorteil liegt darin, dass Transplantationsbeauftragte sich unabhängig von ihrer sonstigen Tätigkeit um eine potenzielle Organspende kümmern können. Der Transplantationsbeauftragte macht keinen Sinn, wenn man diese Aufgabe einem Arzt oder einer Intensivpflegekraft aufbürdet, die ohnehin zwölf oder mehr Stunden am Tag arbeitet. Es sollte vielmehr so sein, dass eine große Universitätsklinik eine Person zumindest in Teilzeit ausschließlich mit dieser Tätigkeit beschäftigt. Sie sollte auf den Intensivstationen wahrgenommen werden, ähnlich beispielsweise einem Hygienebeauftragten.

Wer würde das zahlen?
Prof. Kirste: Das würde in die Berechnung der Kosten miteinfließen und dann von den Krankenkassen erstattet werden.

Zu der Sicherheit der Hirntoddiagnostik: Im Internet finden sich Hinweise über angebliche Fälle von Fehldiagnosen. Sind Ihnen solche Fälle bekannt?
Prof. Kirste:
Definitiv nein! Wenn die Untersuchung 100-prozentig korrekt nach den Richtlinien der Bundesärztekammer gemacht wird, gibt es keine Fehler.

Die DSO schreibt in einem Newsletter: „Eine Narkose zur Ausschaltung des Bewusstseins und der Schmerzreaktion ist beim hirntoten Spender nachweislich überflüssig." Dazu gibt es aber kontroverse Ansichten. Wie beurteilen Sie diese Diskussionen?
Prof. Kirste:
Es gibt Kliniken, in denen Anästhesisten – aus welchen Gründen auch immer – Narkotika geben. Dies ist aber sinnlos. Eine Schmerzempfindung ist beim Hirntod komplett ausgeschlossen. Es kann allerdings sinnvoll sein, Relaxantien zu geben, um den Muskeltonus herabzusetzen. Der wird nämlich nicht über das Gehirn geschaltet, sondern vom Rückenmark oder von noch periphereren Strukturen.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Dorothee Schulte
 

 

Das Transplantationsgesetz
In Deutschland regelt seit 1997 das Transplantationsgesetz (TPG) die Spende, Entnahme, Vermittlung und Übertragung von Organen. Das Gesetz verbietet jeglichen Handel mit menschlichen Organen. Außerdem bestimmt es, dass die Verantwortung für die Entnahme und die Vermittlung von Organen nicht in einer Hand liegen dürfen. So organisiert die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) unter anderem die Zusammenarbeit zwischen den Entnahmekliniken und den Transplantationszentren. Wer die Organe empfängt, wird hingegen von Eurotransplant nach festgelegten Kriterien wie Dringlichkeit, Erfolgsaussicht, Wartezeit und Gewebeübereinstimmung bestimmt.
Das TPG regelt auch die Frage der Zustimmung. Für die postmortale Spende sieht das Gesetz die sogenannte erweiterte Zustimmungslösung vor. Das heißt: Eine Entnahme ist zulässig, wenn der Spender zu Lebzeiten eingewilligt hat. Wenn sein Wille nicht bekannt ist, entscheiden seine nächsten Angehörigen aufgrund seines mutmaßlichen Willens.
Seit der erfolgreichen Nierenspende des SPD-Fraktionschefs Frank-Walter Steinmeier an seine Ehefrau vor etwa einem Jahr ist in der Politik und der Öffentlichkeit das Thema Organspende zu neuem Leben erwacht. Einige Politiker setzen sich für die „Widerspruchslösung" ein. Das bedeutet, man geht von einem grundsätzlichen Einverständnis aus, es sei denn, der Patient hat zu Lebzeiten widersprochen. Im Juni haben sich die Gesundheitsminister auf einer Konferenz auf die „Entscheidungslösung" geeinigt, bei der jeder Bürger wenigstens einmal im Leben bewusst mit der Frage konfrontiert werden soll, ob er mit einer Organspende einverstanden ist.
Außerdem hat das Bundeskabinett im gleichen Monat einen Entwurf für eine Gesetzesänderung beschlossen. Darin wird die gesetzliche Pflicht der Entnahmekliniken hervorgehoben, den Hirntod aller möglichen Organspender zu melden, die Rolle der DSO gestärkt und die Entnahmekliniken werden verpflichtet, mindestens einen Transplantationsbeauftragten zu bestellen.

 

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