Im Universitätskrankenhaus Odense, Dänemark, werden beatmete Patienten schon seit Jahren nicht mehr sediert – außer in Ausnahmefällen. Peter Nydahl sprach mit Lotte Abildgren Schultz, was das für die Patienten selbst, aber auch für die Pflege bedeutet und wie dieser Ansatz erfolgreich eingeführt werden kann.
Seit wann verfolgt ihr in eurem Klinikum diesen Ansatz, nach dem beatmete Intensivpatienten nicht mehr sediert werden?
Als ich 2000 als Intensivschwester hier anfing, haben wir begonnen, nur die Patienten zu sedieren, die es wirklich benötigen, zum Beispiel Patienten, die nicht ruhig liegen konnten. Im letzten Jahrzehnt ist dieser Ansatz dann mehr und mehr zu einem allgemeinen Prinzip geworden. Die meisten Patienten können ohne Sedierung beatmet werden.
Also war es eine Art allmählicher Wandel in den letzten Jahren?
Genau. Einer unserer Ärzte auf der Intensivstation, Jens Schierbeck, war hier der führende Kopf und sagte, eine Sedierung wäre nicht notwendig. Er war da sehr konsequent und nach einigen Jahren hieß es: „Keiner soll eine Sedierung erhalten." Ich habe dazu einen eher humanistischen Zugang. Ich erfasse die aktuelle Situation eines Patienten und nehme wahr, dass einige Patienten ein bisschen Sedierung gebrauchen könnten. Es waren zu Beginn wenige im Team, die hier zusammengearbeitet haben, aber dann ging es los. Und nach einigen Jahren steuerte es in die andere Richtung: Jeder sollte sediert werden. Jetzt haben wir ein ausgewogenes Level gefunden. Einer unserer jüngeren Ärzte, Thomas Strøm, ist in einem PhD-Programm und hat in einer Studie sedierte und nicht-sedierte Patienten miteinander verglichen, mit sehr guten Ergebnissen. Als bekannt wurde, dass seine Studie im Lancet veröffentlicht werden würde, gab es hier eine große Feier.
Ich erinnere mich, dass Strøm einen sehr guten Stellenschlüssel von Pflegenden zu Patienten angab. Wie liegt dieser genau?
In den großen dänischen Universitätskrankenhäusern ist im Intensivbereich eine Pflegende für einen Patienten da. Und wenn eine sehr schwere Situation vorliegt, körperlich oder psychisch, sind häufig auch zwei Pflegende für einen Patienten da. Während der Schicht ist die Pflegende kontinuierlich bei ihrem Patienten. Auf der Medizinischen Intensivstation, auf der ich arbeite, hat die Pflegende einen kleinen Schreibtisch vor dem Zimmer mit einem Fenster, durch das sie den Patienten sehen kann. So ist sie immer am Patienten. Der Patient ist nie alleine.
Kann der Patient eigentlich um eine Sedierung bitten?
Nein (lacht). Er kann nicht danach fragen oder wünschen, sediert zu werden. Diese Entscheidung liegt bei dem Intensivteam. Aber natürlich gibt es einige Patienten, die eine Sedierung brauchen, zum Beispiel nach Schädelhirn-Trauma oder schwerem Herzinfarkt. Für den Rest gilt jedoch: No, sir! Gleichzeitig tun wir viel dafür, sicher zu sein, dass der Patient keine Schmerzen hat. Weil wir eins-zu-eins arbeiten, haben wir viel Zeit dafür, uns um die psychologischen Aspekte zu kümmern, damit der Patient die Situation bewältigen kann.
Tolerieren die Patienten den oralen Tubus, wenn sie wach sind?
Ja, die meisten schon…
Keine Probleme?
Natürlich - wenn die Patienten auf der Intensivstation ankommen, sind sie auf eine bestimmte Art noch nicht ganz wach. Aber wenn sie dann wach werden, wollen sie sich aufsetzen und sich den Tubus rausziehen. Das ist normal und ganz menschlich. Aber als Pflegende gehst du zum Patienten, redest mit ihm und informierst ihn darüber, dass ein Schlauch in seinem Hals ist und wie dieser ihm hilft zu atmen. Einige Patienten verstehen das sofort, andere brauchen einen Tag oder auch etwas länger. Aber meistens haben wir nicht so viele Probleme. Versehentliche Selbstextubationen kommen natürlich hin und wieder vor, aber nicht viele Patienten machen das mit Absicht.
Benutzt ihr Fixierungen?
Nein. Wir versuchen mit den Patienten zu reden, damit sie die Situation verstehen und akzeptieren können. Und tatsächlich bewältigen sie das sehr gut. Manchmal haben wir auch Pflege- oder Medizinstudenten, die als Sitzwachen bei den Patienten sein können, wenn sie sehr ruhelos sind.
Wie erreicht ihr die Tubustoleranz der Patienten?
Durch Kommunikation und Nähe. Einige Patienten haben das Bedürfnis, dass man neben ihnen sitzt, wenn sie aufwachen. In der Übergangsphase zwischen Wachsein und Nicht-Wachsein greifen viele Patienten zum Tubus, und als Pflegende sagt man: „Nein, du kannst das nicht tun, du kannst noch nicht alleine atmen. Wenn du soweit bist, nehmen wir den Schlauch raus." Wir versichern ihnen, dass alles in Ordnung ist.
Wie kommuniziert ihr mit den Patienten?
Wir haben verschiedene Kommunikationshilfen. Anfangs hatten wir einige Schwierigkeiten damit, weil wir unerfahren waren. Pflegende von unserer Intensivstation haben dann zusammen mit einer Computerfirma den Roll-Talk entwickelt. Das ist ein kleiner Computer, auf dem der Patient den Bildschirm berühren kann und uns somit etwas mitteilen kann. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich durch die Menüs zu klicken. Wir haben einige Patienten, die damit sehr gut zurecht kommen. Die sitzen dann und surfen im Internet, lesen Nachrichten, spielen Karten und so weiter. Einige können das, aber natürlich nicht alle. Und dann gibt es noch die Buchstabentafel, auf der Patienten auf jeden Buchstaben oder jedes Symbol zeigen können. Das ist aber oft zu kompliziert, weil die meisten eine zu kurze Konzentrationsspanne haben und nicht klar genug denken können. Die Pflegenden sollten ihnen erklären, dass sie nur das Schlüsselwort nennen sollten und nicht anfangen mit „Ich habe …", weil sie dann den Rest vergessen.
Und natürlich versuchen wir, ihre nonverbale Kommunikation zu lesen. Das ist sehr schwierig, aber es ist mein Hauptprojekt und ich liebe es daran zu arbeiten. Ich möchte die Pflegenden darin unterstützen, nonverbale Zeichen besser zu verstehen. Als Intensivpflegende haben wir so viel Erfahrung und Wissen durch Studien, die auf Intensivstationen gemacht worden sind. Wir wissen, was Intensivpatienten denken und fühlen könnten und können dadurch besser mit ihnen sprechen. Es gibt einen psychologischen Begriff, genannt Resonanz, das ist ein therapeutischer Ansatz. Natürlich machen wir Pflegende in diesem Stadium keine Psychotherapie, aber wir können Resonanz nutzen, um das auszudrücken, was den Patienten beschäftigen könnte. "Ich weiß, dass Sie verängstigt sind …" oder „Haben Sie Angst zu sterben?" So können wir auf dieser Ebene mit einigen Worten die Gedanken des Patienten formulieren. Dadurch kann er die Situation besser bewältigen.
Wie integriert ihr die Angehörigen? Für sie ist es ja sehr schwierig, mit den Patienten zu kommunizieren.
Es ist ein wenig Learning-by-doing. Wir sagen ihnen, dass sie mit den Patienten reden können. Sie können mit den Patienten umgehen, wie wir mit ihnen umgehen, sie können sie in der Bewegung unterstützen. Einige der Patienten liegen in den ersten Tagen wie ein Stock im Bett, sehr ängstlich, etwas falsch zu machen, und in diesen Fällen leiten wir beide an. Einige von ihnen müssen natürlich vorsichtig sein, wegen der Thoraxdrainagen, aber sie können trotzdem im Stuhl sitzen oder fernsehen. Einige von ihnen waschen sich die Hände. Einige wenige - ich habe es gesehen - lackieren sich die Fingernägel oder tragen Make-up auf. Es geht darum, die eigene Autonomie und Würde zu bewahren in dieser sehr, sehr veränderten Welt.
Wie mobilisiert ihr beatmete Patienten?
Wie jeden anderen Patienten auch - es hängt von der aktuellen Situation ab. Wird ein Lifter benötigt, benutzen wir ihn. Wenn der Patient auf der Bettkante sitzen kann, setzen wir ihn auf die Bettkante oder wir stellen ihn mit einem Standing, wir nennen es Rednerpult, hin. Wir machen das sehr individuell, abhängig davon, was der Patient kann. Er muss so viel machen wie er kann, um seine Muskeln zu erhalten.
Was sagen die Patienten dazu, wach zu sein?
Es gibt ein neues PhD-Projekt, meine Kollegin Eva Lærkner hat im Mai 2011 damit begonnen. Wenn Angehörige und Patienten nach ihrer Entlassung zu einem Termin wieder unsere Station besuchen, reden der Bezugsarzt und die Bezugspflegende mit ihnen über die Zeit auf der Intensivstation. Nach meinem Wissen erwähnt niemand das Wachsein als etwas Gutes oder Schlechtes. Aber ich kann nichts Definitives darüber sagen. Es hängt von der individuellen Persönlichkeit ab. Einige mögen es, andere nicht. Einige wollen schlafen, wollen das alles nicht mitbekommen.
Schreibt ihr für die wachen Patienten Tagebücher?
Wir schreiben für jeden Patienten ein Tagebuch, der länger als 48 Stunden auf der Intensivstation ist. Sie bekommen es bei ihrer Entlassung.
Wie behandelt ihr ein Delirium?
Wir monitoren alle Patienten mit dem RASS und dem CAM-ICU und haben einige Leitlinien hierfür. Thomas Strøm hat vor einigen Jahren eine kleine Arbeit zum Delirium (Danish Doctors weekly) gemacht und herausgefunden, wie viele Patienten ein Delirium haben. Wir sehen aber nur die, die sehr agitiert sind, die meisten Patienten haben ein stilles Delirium. Und tatsächlich sehen wir ein Delir, weil die Patienten wach sind. Deshalb haben wir jetzt statistisch mehr Patienten mit Delir. Wir sehen es nicht, wenn Patienten sediert sind. Wir haben eine Leitlinie für das Delirium und untersuchen die Patienten dreimal am Tag, ob sie positiv oder negativ für ein Delir sind. Wenn jemand ein Delir hat, behandeln wir ihn mit Haloperidol. Wir haben klare Richtlinien, wie viel wir geben. Aber das ist das Einzige, was wir außer Schmerzmedikation geben, und natürlich andere notwendige Medikamente.
Welche Medikamente verwendet ihr?
Für die Sedierung verwenden wir Propofol und für die Schmerzen Morphium (Bolusgabe). Wir benutzen keine Benzodiazepine, weil sie das Risiko für ein Delir erhöhen. Wir geben nur Morphium, und Paracetamol für leichte Schmerzen. Ziel ist es, dass die Patienten klar bleiben, mit der Situation zurecht kommen und wir ihre neurologische Situation gut beobachten können.
Was ist mit Remifentanil oder Sufentanil?
Manchmal, je nach Schmerzsituation, kann Fentanyl in geringer Dosierung kontinuierlich verabreicht werden. Oder wir geben den Patienten eine epidurale Morphiumpumpe. Wir möchten ihnen nicht so viele Schmerzmedikamente geben, aber dennoch sollen sie schmerzfrei sein – andernfalls könnten wir sie nicht mobilisieren und andere Sachen mit ihnen machen.
Machen die Patienten eine Art Training vor geplanten, elektiven Operationen, um die Tubustoleranz zu verbessern?
Nein, denn die meisten Patienten kommen ungeplant und akut.
Werden die Patienten vor geplanten Operationen darüber informiert, dass es sein kann, dass sie aufwachen, wach bleiben und an einem Beatmungsgerät bleiben müssen?
Vor geplanten Operationen werden sie informiert, dass es sein kann, dass sie wach sind und beatmet werden müssen, aber wir reden nicht über Sedierung. Sie können fragen „Werde ich wach sein?" und wir sagen „Ja"
Kommen die Patienten damit trotzdem klar?
Ja, das ist kein großes Problem. Natürlich haben wir auch Patienten, die das nicht bewältigen können. Dann geben wir ihnen eine Sedierung, bis sie extubiert werden können. Aber wir versuchen es immer wieder. Bei sedierten Patienten machen wir einen täglichen Aufwachversuch. Dann sehen wir, ob sie es bewältigen können und danach entscheiden wir.
Wie wurde der neue Ansatz, beatmete Patienten nicht mehr zu sedieren, implementiert? Gab es Barrieren?
Typische Zweifel sind am Anfang: „Jeder Patient zieht sich den Tubus raus", „Die Patienten werden schwerer zu betreuen sein", „Die werden sehr unruhig sein", „Sie werden Angst haben", „Die kommen damit nicht klar", „Wir werden noch mehr Arbeit mit ihnen haben" und natürlich: „Ich glaube nicht, dass das funktioniert".
Das waren alles Barrieren, mit denen wir anfänglich zu tun hatten. Die Pflegenden sagten: „Dann müssen wir zwei Pflegende pro Patient haben, um die zu beobachten." Ich kann einfach nur sagen: Nichts davon ist eingetroffen. Es läuft viel besser, als wir erwartet hatten, weil wir jetzt Patienten haben, die mit uns arbeiten. Es ist auch nicht mehr ein so schweres Arbeiten, weil einige Patienten tatsächlich beim Drehen helfen können. Weil sie wach sind, können sie auch Anteil am täglichen Leben nehmen. Sie können sich zum Beispiel selbst das Gesicht oder die Hände waschen – oder was sie eben möchten. Wir lassen sie das machen und geben ihnen das Gefühl, ein menschliches Wesen zu sein. Einige Studien ergaben, dass Patienten sich nicht mehr als Mensch fühlten, wie Maschinen, lebende Tote und so weiter. Durch die Integration in das tägliche Leben erhalten wir ihr Gefühl, immer noch Mensch zu sein und dass sie für sich selbst etwas tun können.
Wie können wir vorgehen, wenn wir diesen Ansatz in Deutschland einführen möchten?
Fangt einfach an. Ich denke, du solltest uns mit ein paar Kollegen hier in Odense besuchen. Kommt und schaut, wie wir beatmete Patienten betreuen, die nicht sediert sind. Begleitet die Pflegenden für ein oder zwei Tage. Vielleicht redet ihr mit den Ärzten, vielleicht mit Thomas Strøm, er ist sehr nett und ich bin mir sicher, dass er gerne darüber reden wird. Und fangt einfach an, vielleicht mit einer kleinen Gruppe, und schaut, wie es läuft. Wie eine kleine Vorstudie mit ein oder zwei Patienten.
Also Erfahrungen sammeln und dann Schritt für Schritt einführen ...
Genau, langsam anfangen. Wenn du sagst, von jetzt an sedieren wir gar keine Patienten mehr, wird es nicht funktionieren. Ich denke, es hängt von den Pflegenden ab, ob es klappt. Schließlich sind sie diejenigen, die mit den Patienten die meiste Zeit verbringen, und wenn du die Pflegenden nicht dabei hast, wird es nicht funktionieren. Wenn sie nicht mitmachen, werden sie die ganze Zeit am Telefon hängen und dem Arzt sagen: „Ich brauche mehr Propofol, er muss sediert werden." Du musst also zunächst deine Kollegen überzeugen. Und natürlich braucht es einige Zeit, um tägliche Routinen zu verändern, selbst dann wenn die meisten Kollegen denken, dass es eine gute Idee wäre.
Ich finde, es ist eine sehr schöne Art, die Patienten zu pflegen. Du betreust Patienten, die sehr vulnerabel sind, psychisch wie auch physisch. Legen die Pflegenden ihren Schwerpunkt auf die Begegnung mit dem Patienten, durch Kommunikation, Nähe und direkten Kontakt, kann der Patient die Situation auf der Intensivstation meist sehr viel besser bewältigen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Peter Nydahl. Die Fragen wurden im Deutschen Netzwerk Frühmobilisierung beatmeter Intensivpatienten entwickelt.
Tipp
Interessierte können das vollständige Interview in englischer Originalfassung auf der englischsprachigen Website www.mobilization-network.org lesen (unter News).