• Praxis
Problemanalyse

Was tun gegen Behandlungsfehler?

Medizinische Behandlungsfehler sind eine der größten Probleme für die Patientensicherheit. Presseartikel widmen sich immer häufiger in epischer Ausführlichkeit einzelnen unglücklichen Behandlungsverläufen – undifferenzierte Schlagzeilen wie „Tod durch Ärztepfusch" sind hierbei keine Seltenheit. Belgische Wissenschaftler gingen nun den Fragen nach, ob Behandlungsfehler tatsächlich häufiger vorkommen als früher, und wie Kliniken präventiv tätig werden können.

Um wenigstens für schwere und klinisch folgenreiche Behandlungsfehler belastbare Daten zu gewinnen, führten Dr. Annemarie Vlayen und Mitarbeiter von der Medizinischen Fakultät der Hasselt Universität in Leuven/Belgien kürzlich eine retrospektive Literaturanalyse durch. Die Autoren werteten internationale Publikationen aus, die über medizinische Datenbanken wie Medline, Embase und Central abrufbar waren. Die Stichwortsuche wurde mit Suchbegriffen wie „adverse event", „critical incident", „medication error", oder „diagnostic error" durchgeführt und umfasste einen Publikationszeitraum von 1966 bis 2010. Die Durchsicht der aufgefundenen Arbeiten erfolgte durch zwei voneinander unabhängige Experten anhand eines standardisierten Auswertungsbogens. Da die Beurteilung, ob ein Behandlungsfehler schwer ist, sehr subjektiv ist, formulierten die Autoren vorab folgende Definition für ein schweres Fehler-Ereignis:
·    Das Ereignis musste auf der Normalstation oder im OP stattgefunden haben,
·    es musste sich um ein durch aktives Handeln oder durch Unterlassung eingetretenes Schadensereignis handeln,
·    das Ereignis musste zur ungeplanten Aufnahme oder Wiederaufnahme des betroffenen Patienten auf die Intensivstation geführt haben.

Behandlungsfehler, die diese Definition erfüllten, und über einen definierten Zeitraum in einem einzelnen Krankenhaus erfasst wurden, wurden in die Studie aufgenommen. Ausgeschlossen wurden dagegen Ereignisse, die zur Aufnahme auf neonatologische Intensivstationen führten, oder Ereignisse, die in anderen als dem eigentlichen Studien-Krankenhäusern auftraten und zur Verlegung auf dessen Intensivstation führten.

Primäre Zielgröße der Studie waren die Anzahl der schwerwiegenden medizinischen Fehler, der relative Anteil dieser Ereignisse an allen Intensivaufnahmen und die Anzahl der als vermeidbar eingeschätzten Ereignisse. Sekundäre Zielgröße waren die Art des Ereignisses, die vermuteten Ursachen sowie die medizinischen und ökonomischen Folgen (Morbidität, Mortalität, Kosten durch verlängerte Intensiv- und Krankenhausbehandlung).

Im Ergebnis konnten im ersten Suchdurchlauf 1116 Studien identifiziert werden, von denen nach Prüfung der Zusammenfassungen allerdings nur 83 für eine weitere Auswertung geeignet erschienen. Nach Durchsicht dieser Arbeiten im Volltext verblieben letztlich 27 Arbeiten, die die Einschlusskriterien erfüllten und in die Analyse einbezogen wurden. Die Studien kamen aus Krankenhäusern in den USA, Kanada, Frankreich, Neuseeland, Australien und afrikanischen Staaten, jedoch nicht aus europäischen Kliniken. Da die Daten in den Studien in sehr unterschiedlicher Weise aufbereitet wurden, war eine Zusammenfassung in Form einheitlicher Zahlen nicht möglich.

Die Ergebnisse wurden daher für jede Studie separat dargestellt und bewertet. Zur primären Zielgröße, der Häufigkeit „intensivpflichtiger" Behandlungsfehler, ergaben sich Zahlen zwischen 1,1 und 37,3 Prozent aller Intensivaufnahmen. Ausgewertet wurden dabei Fallzahlen zwischen n=17 und n=1792. Zwischen 17 und 51,5 Prozent der Fehler wurden als vermeidbar eingestuft. Der durch den jeweiligen Fehler bedingte Intensivaufenthalt variierte zwischen 1,5 und 13,3 Tagen. Die Mortalität durch den Fehler wurde in den Studien mit null bis 58 Prozent beziffert.



Art und Ursachen der Fehler
Interessant waren die sekundären Zielgrößen, also die Art der Fehler. In vier Studien wurden Fehler beschrieben, die während einer Narkose im OP auftraten. Sie waren bedingt durch die falsche oder falsch dosierte Gabe von Sedativa und/oder Infusionsflüssigkeiten. Dabei variierten die Angaben über den Prozentsatz der vermeidbaren Fehler allerdings erheblich, etwa von 20,6 bis 92 Prozent. Eine Zahl, wie häufig solche Fehler, bezogen auf alle Allgemeinanästhesien, auftraten, wurde in keiner der Studien angegeben, da die Bezugsgröße „Anzahl aller Narkosen" nicht in den Studien enthalten war. Weitere Studien widmeten sich der Häufigkeit von Fehlern auf peripheren Stationen.

Eine Arbeit aus Frankreich betrachtete beispielsweise die medizinischen Fehler, die während eines zwölfmonatigen Beobachtungszeitraums in einem 500-Betten-Krankenhaus auftraten. Dabei wurden 68 schwerwiegende, zu einer Intensivaufnahme führende Fehler erfasst. Bezogen auf alle Intensivaufnahmen handelte es sich um 10,9 Prozent der Aufnahmen. Mehr als die Hälfte dieser Fehler (51 %) wurden als vermeidbar eingestuft. Die Art der Fehler variierte erheblich. Zum Teil handelte es sich um zu späte oder inkorrekte Diagnosestellungen, zum Teil aber auch um Medikationsfehler. Eine Zusammenfassung aller neun Studien, in denen die Art der medizinischen Fehler näher analysiert wurde, ist Abbildung 1 zu entnehmen. Die Daten beziehen sich allerdings nur auf diejenigen Fehler, deren Ursache in den Studien konkret angegeben wurde. Daneben gab es in allen Studien auch nicht spezifizierte Fehler, weshalb sich die Prozentsätze nicht auf 100 addieren.

Die Studie aus dem französischen 500-Betten-Krankenhaus war die einzige, die die ökonomischen Folgen der Fehler analysierte. Die Autoren gaben an, dass die 68 erfassten Fehler zu 472 unnötigen Intensivbehandlungstagen führten, mit einer mittleren Behandlungsdauer pro Patient von 6,8 ± 9,3 Tagen (Streuung 1-51 Tage). Die Mortalität durch diese Fehler betrug 13 Prozent (9 von 68 Patienten). Die Berechnung der durch die Fehler verursachten intensivmedizinischen Behandlungskosten ergab einen Betrag von 688 470 US-Dollar. Pro Fehler-Ereignis entstanden somit Kosten von zirka 10 000 US-Dollar.

Schlussfolgerung der Autoren
Die Daten aus internationalen Krankenhäusern zeigten, dass zwischen 1,1 und 37,3 Prozent aller Intensivaufnahmen durch medizinische Behandlungsfehler auf der Allgemeinstation oder im OP bedingt waren. Obwohl eine Mittelung dieser Werte aufgrund der erheblichen Heterogenität der Studien nicht möglich war, zeigen die Zahlenwerte zumindest, dass ein erheblicher Teil der intensivmedizinischen Bettenkapazität weltweit durch solche zumindest zum Teil vermeidbaren Ereignisse beansprucht wird.

Aus Sicht der Autoren ergeben sich erhebliche Einsparpotentiale, wenn in den Krankenhäusern systematisch mit der Aufarbeitung derartiger Fehler und der Etablierung von Fehlervermeidungssystemen begonnen wird. Obwohl dies nicht Thema der untersuchten Studien war, vermuten die Autoren, dass ein „rapid response team" oder „medical emergency team" vermutlich geeignet wäre, einen großen Teil der aufgrund derartiger Fehler erforderlichen Intensivaufnahmen im Vorfeld zu vermeiden.

Kommentar des Verfassers
Die Literaturrecherche zeigte zunächst, dass die internationale Datenlage zu schwerwiegenden medizinischen Fehlern außerordentlich dürftig ist. Besonders auffällig war, dass keinerlei Studien aus deutschen Krankenhäusern vorlagen. Dies entspricht der klinischen Beobachtung, dass Fehlermeldesysteme erst in den letzten Jahren in einigen deutschen Kliniken etabliert wurden. Vermutlich werden erst in einigen Jahren die ersten Veröffentlichungen aus Deutschland erscheinen, in denen über die Erfahrungen mit derartigen Fehlermeldesystemen berichtet wird.

Ein sehr guter Gedanke der Studie ist der Vorschlag, sogenannte „rapid response" oder „medical emergency teams" (MET) zu gründen. Die meisten deutschen Krankenhäuser verfügen derzeit lediglich über ein sogenanntes „Reanimationsteam", welches bei akuten Herz-Kreislauf- oder Atemstillständen über ein Notfalltelefon oder einen Notfallknopf alarmiert werden kann. Wesentlich häufiger als derartige Reanimationsereignisse sind jedoch akute klinische Verschlechterungen bei einzelnen Patienten, welche das auf der Station anwesende Pflegeteam medizinisch überfordern. Es kann sich hier um Herzrhythmusstörungen, Blutdruckkrisen, akute Atemnot, akute Verwirrtheit oder andere zwar nicht unmittelbar lebensbedrohliche, aber eben doch gefährliche Ereignisse handeln. Oft treten derartige Ereignisse auf der Station ein, wenn die Stationsärzte im OP oder in Funktionsbereichen tätig sind. Der zuständige Arzt ist daher nicht unmittelbar erreichbar oder auch nicht abkömmlich. In solchen Fällen ist ein über die Anästhesie-Ambulanz oder die Intensivstation abrufbares Team, welches innerhalb weniger Minuten auf der Station sein kann, oft in der Lage, den Patienten zu stabilisieren und damit eine Verlegung auf die Intensivstation zu vermeiden. Einige Krankenhäuser haben derartige Teams bereits gegründet und berichten über einen signifikanten Rückgang ungeplanter bzw. unangemeldeter Intensivaufnahmen.

Quelle: Vlayen A et al. Incidence and preventability of adverse events requiring intensive care admission: a systematic review. Journal of Evaluation in Clinical [2012] 18:485-497

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