• Praxis
Erfahrungsbericht

Vom Inselspital ins Containerkrankenhaus

Anfang 2010 forderte ein schweres Erdbeben in Haiti über 300.000 Todesopfer und machte fast zwei Millionen Menschenobdachlos. Im vergangenen Jahr flog die Schweizer Anästhesie-Pflegefachfrau Daniela Riedo vom Inselspital Bern in den Karibikstaat und arbeitete drei Monate lang im Operationstrakt eines Containerkrankenhauses. Im Folgenden fasst sie ihre Erfahrungen zusammen.

Zwei Jahre nach dem verheerenden Erdbeben flog ich im Auftrag von Ärzte ohne Grenzen nach Port-au-Prince, der Hauptstadt von Haiti. Von weit oben sah die Stadt eigentlich ganz ordentlich aus. Doch je tiefer das Flugzeug sank, desto deutlicher war zu erkennen, dass die meisten Häuser gar kein Dach hatten, und kurz vor dem Landen wurde mir bewusst, dass die blauen Punkte weit unten immer noch bewohnte Zeltsiedlungen waren. In den vergangenen zwei Jahren hat sich in Haiti die Lebenssituation nur für wenige Menschen verbessert. Vieles ist immer noch zerstört, vieles fehlt.
 

Einsatz erforderte gute Vorbereitung

Haiti zählte im 14. Jahrhundert zu den schönsten und reichsten Ländern der Welt und erlangte als erste Kolonie die Unabhängigkeit von den Franzosen. Heute ist es ein wenig entwickeltes Land mit schwacher Wirtschaft und instabiler politischer Lage. Korruption und Missbrauch sind an der Tagesordnung, Kidnapping gilt sozusagen als Nationalsport der Haitianer. Schrecklich zu sehen ist zudem die Abholzung der Wälder, was wiederum zu massiven Umwelt- und Naturkatastrophen führt.

In den Häusern wird viel Holz zum Heizen und Kochen verbrannt. Durch den ungefilterten Rauch entstehen schwerwiegende gesundheitliche Schäden. Viele Patienten leiden unter schwerem Asthma, das nicht behandelt wird. Häufig ist auch eine ausgeprägte Hypertonie zu beobachten, was bei der Wahl der Anästhesie nicht unbeachtet bleiben darf.

Der humanitäre Einsatz in Haiti war für mich der zweite mit Ärzte ohne Grenzen – 2008 bin ich bereits in Niger gewesen. Nach einem kurzen telefonischen Briefing aus dem Büro in Genf und vielen Unterlagen bereitete ich mich zu Hause sorgfältig auf den Einsatz vor. Am schwierigsten stellte ich mir vor, allein zu arbeiten und Spinalanästhesien anzulegen. Zum Glück ermöglichte mir die Klinikleitung des Inselspitals, dies vor meinem Abflug nach Haiti noch zu erlernen.
 

Das Bestmögliche leisten

Ärzte ohne Grenzen betreut in Léogâne, 25 Kilometer südlich der Hauptstadt, seit dem Erdbeben im Januar 2010 ein Containerspital mit 120 Betten. Zunächst war es ein Zeltspital – mittlerweile ist mit dem Containersystem für Mitarbeiter und Patienten et- was mehr Komfort vorhanden. Schwerpunkte der Behandlungen sind gynäkologische Eingriffe und Traumatologie. Daneben verfügt das Spital über eine Neonatologie, eine pädiatrische Abteilung und eine medizinische Abteilung für Erwachsene. Ziel der Arbeit von Ärzte ohne Grenzen ist es, die akute Versorgung zu gewährleisten und die Gesundheitsvorsorge der Bevölkerung zu verbessern. An der Eingangstür des Spitals steht auf Kreol geschrieben, dass die Behandlung kostenlos ist: „Swen gratis pour tou moud." Das bewegt die Menschen, auch von sehr weit her zu kommen.

Unser Team im Operationstrakt in Léogâne bestand aus zwei Anästhesiefachpersonen, einem Orthopäden, einem Allgemeinchirurgen und einer technischen Operationsassistentin aus dem Ausland. Das Team arbeitete in zwei Operationssälen: einem für Gynäkologie und Geburtshilfe sowie einem für die übrigen Operationen. Unterstützt wurden wir von guten einheimischen Ärzten und Pflegefachpersonen. Gynäkologen sind Haitianer, die teilweise in Kuba, Belgien oder Amerika studiert haben. Pflegekräfte haben in Haiti selber studiert. Kurz vor jedem Schnitt wird nicht ein Timeout gehalten, wie das im Inselspital üblich ist, die Ärzte und Schwestern halten sich an den Händen und schicken ein Stoßgebet zum Himmel. Sie sind gläubig und vertrauen sehr auf Gott.

Während meiner Zeit in Léogâne wurden in unserem Spital pro Monat etwa 500 Kinder geboren, davon rund 65 durch Kaiserschnitt. Wenn möglich, werden für die Schnittentbindungen Spinalanästhesien durchgeführt. Bei ei-nem Kaiserschnitt und den anderen Operationen waren jeweils ein Anästhesist, ein Operateur und eine technische Operationsassistentin anwesend. Das Team verfügte zudem über eine zirkulierende technische Operationsassistentin, die bei Bedarf auch bei den Anästhesien half.
 

Notfall am Samstagmorgen

Es ist Samstagmorgen. Ich erhoffe mir einen ruhigen Arbeitstag. Gegen neun Uhr erhalten wir zu Hause per Funk die Meldung für einen Kaiserschnitt bei einer jungen Patientin bei schwerer Eklampsie. Einige Minuten später erreichen wir das Spital und finden die Patientin in der Vorbereitung. Die Frau ist schon nicht mehr ansprechbar und wird intubiert. Das Kind, das durch eine notfallmäßige Sectio geboren wird, überlebt, die 19-jährige Mutter stirbt, weil die adäquate Nachbetreuung in Haiti nicht gewährleistet werden konnte. Später haben wir erfahren, dass ihr Ehemann mehrere Stunden zu Fuß mit der Frau auf dem Arm unterwegs war und danach noch zwei Stunden mit dem Auto.

In Haiti ist dies kein Einzelfall – auch wenn das für uns West- europäer schwer zu verstehen ist. Die meisten Leute haben hier immer noch einen unvorstellbar erschwerten Zugang zur Gesundheitsvorsorge und Behandlung. Leider kommen solche Komplikationen nicht selten vor. Oft haben auch Frühgeburten in Haiti eine nur sehr geringe Überlebenschance. Eine Familie hat durchschnittlich fünf bis sechs Kinder. Im Spital werden täglich vier bis fünf Abtreibungen durchgeführt. Der Eingriff wird oft in Ketalar- und Valiumnarkose durchgeführt. Auch Unterbindungen gehören zum täglichen Operationsprogramm. Bluttransfusionen sind erst bei einem Hämoglobin weniger als fünf erlaubt. Oft muss man die Familie dazu auffordern, Blut für den Patienten zu spenden.
 

Gewalt und Verkehrsunfälle an der Tagesordnung

Das Hauptverkehrsmittel in Haiti ist das Moped. Oft fährt die ganze Familie auf einem Fahrzeug. Man sieht nicht selten Mopeds mit vier bis fünf Personen. Da aber die Straßen zerstört sind und auch sonst keine Verkehrsregeln herrschen, kommt es sehr oft zu Massenunfällen. Die orthopädische Abteilung ist daher, wie die gynäkologische, sehr stark ausgebucht. In der unmittelbaren Zeit nach dem Erdbeben wurden viele Amputationen durchgeführt. Die Wiedereingliederung dieser Betroffenen ist in Haiti sehr schwer. Die Menschen sind traumatisiert und fürchten noch heute bei Verletzungen an den Beinen oder Armen, sofort amputiert zu werden. Sie kommen deshalb auch oft nicht sofort ins Spital.

Statt Osteosynthesen durchzuführen, legten wir den meisten Patienten einen Fixateur externe an. Dies ist für die Chirurgen eine große Herausforderung, weil im Operationssaal kein Röntgenapparat vorhanden ist. Auch die Anästhesie ist sehr gefordert, da nach Möglichkeit Operationen an den unteren Extremitäten in Spinalanästhesie durchgeführt werden. Leider weiß man nie genau, wie lange die Operation dauert. Bei kleineren geschlossenen Repositionen verwendeten wir wiederum Ketamin und Valium. Im Januar führten wir 225 orthopädische und viszeralchirurgische Eingriffe durch, darunter viele Frakturen, Inguinalhernien und Abszessausräumungen. Die Abszesse sind oft bedingt durch das feuchtwarme Klima und mangelnde Hygiene.

Gewalt ist in Haiti kein Fremdwort. Oft mussten wir notfallmäßig Patienten mit diversen Schuss- und Messerstichverletzungen operieren. Dies erfolgt in den meisten Fällen in Vollnarkose, die mit Halothan unterhalten wird. Misshandlungen und Vergewaltigungen sind teilweise tabu, trotzdem sind sie die Realität.

Das intraoperative Monitoring ist sehr bescheiden. Ein Elektrokardiogramm wird nicht geklebt, da es kaum Elektroden gibt. Die Sättigung ist der wichtigste Parameter. CO2 konnten wir bei intubierten Patienten zum Glück messen. Im Aufwachraum gibt es einen Monitor für mehrere Patienten gleichzeitig. Mann muss immer genau schauen, bei welchem Patienten der Blutdruck oder die Sättigung gerade gemessen wird. Postoperativ werden die Patienten in einem Aufwachraum betreut. Die Betreuung gehört auch zur Aufgabe der Anästhesisten.'

Eine wertvolle Erfahrung

Neben der täglichen Arbeit als Anästhesiepflegerin gehörte die Schulung des haitianischen Personals zu unseren Aufgaben. So wurden regelmäßig Schulungen im Bereich Notfallmedizin und Reanimationen durchgeführt. Die einheimischen Kollegen waren sehr interessiert, und die Wertschätzung unserer Arbeit gegenüber war sehr groß. Trotzdem gibt es große Unterschiede zwischen ihrem und unserem Pflege- und Behandlungsverständnis. Wenn beispielsweise ein Medikament nicht mehr im Schrank ist, ist das halt einfach so. Es wird nichts unternommen, damit es eine gewisse Reserve gibt – auch wenn es sich um Notfallmedikamente handelt. Auch das Material ist nicht so wichtig. Ob jetzt der Ambubeutel gerade gewaschen wird oder nicht, spielt auch keine große Rolle. Da wir von der Schweiz her eine völlig andere Arbeitsweise gewöhnt sind, führte dies oft zu nervenaufreibenden Situationen.

Der Umgang mit dem Tod ist sicher in Ländern der Karibik ebenfalls ganz anders als bei uns. Das Überleben nach einem Unfall wird oft als Wunder zelebriert. Voodoo gilt immer noch als weitverbreitete Religion. Schätzungsweise drei Viertel der Menschen in Haiti gehören dem Voodoo an. Gleichzeitig bekennen sich 90 Prozent auch zum katholischen Glauben. Oft werden bei schweren Erkrankungen wie Dünndarmverschluss oder Infektionen bei Kindern religiöse Praktiken angewandt, bevor die Leute – dann natürlich sehr spät – ins Spital gehen.

Das Leben mit Ärzte ohne Grenzen in einem Krisengebiet ist nicht immer einfach. Man muss zum Beispiel damit zurechtkommen, dass strikte Sicherheitsregeln einzuhalten sind: Man darf nicht allein auf die Straße – und wenn, dann möglichst nicht zu Fuß. Die meiste Zeit verbringt man im Compound, auch an den freien Tagen. Obwohl der Spital-alltag geregelt war und für uns Anästhesisten keine extreme Notsituation herrschte, war der Bereitschaftsdienst für die vielen Sectios sehr groß und anstrengend. Der Aufwand hat sich aber allemal gelohnt. Es war für mich eine große Bereicherung.

Zum Schluss möchte ich erwähnen, dass die Arbeit sehr spannend und abwechslungsreich war. Die Freundlichkeit, Bescheidenheit und Dankbarkeit der Menschen in solchen Umständen finde ich nach wie vor bewundernswert. Sie sind auf unsere Unterstützung angewiesen.

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