• Praxis
Familienzentrierte Pflege

„Angehörige sollten bei Reanimationen dabei sein dürfen"

Niederländische Intensivstationen gehören in der Angehörigenintegration zu den liberalsten in Europa – besonders im Bereich der Pädiatrie und Neonatologie. Deutschland hinkt hier deutlich hinterher. Woran das liegt und wie die Situation verbessert werden kann, erklärt der niederländische Pflegewissenschaftler Dr. Jos M. Latour im Interview.

Herr Dr. Latour, vor Ihrer wissenschaftlichen Laufbahn haben Sie viele Jahre in der pädiatrischen Intensivpflege gearbeitet. Wie haben Sie damals die Eltern Ihrer Patienten betrachtet? Als Pflegepartner oder als Besucher?

Als ich 1986 anfing, in der pädiatrischen Intensivpflege zu arbeiten, waren wir in den Niederlanden schon vergleichsweise weit, was das Thema Angehörigenintegration betrifft. Von 8.30 bis 20 Uhr durften die Eltern unserer Patienten bei ihrem Kind bleiben. Zwischen zwölf und 14 Uhr versuchten wir, eine ruhige Atmosphäre zu schaffen, indem wir die Vorhänge zuzogen und die Lichter etwas abdunkelten. Die Eltern baten wir, während dieser Zeit die Station zu verlassen und beispielsweise in der Cafeteria Mittagessen zu gehen. Dies waren die wesentlichen Besuchsregeln zu dieser Zeit. Wenn der Zustand eines Kindes sehr instabil war, durften Eltern auch während der Mittagszeit und nach 20 Uhr auf der Station bleiben. Um aber auf Ihre Frage zurückzukommen: Die Eltern unserer Patienten habe ich immer als Pflegepartner angesehen, nie als Besucher. Es geht doch um ihr Kind und nicht um meins. Deswegen war es für mich immer eine Selbstverständlichkeit, gemeinsam mit den Eltern zu überlegen, wie ein Kind gepflegt werden soll. Meiner Erfahrung nach helfen Eltern sehr gerne bei der Pflege ihres Kindes mit, wenn sie sich erst einmal an die hektische Atmosphäre einer Intensivstation gewöhnt haben.'
 

Wie sind Sie für gewöhnlich vorgegangen?

Bereits gegen Ende der 80er Jahre haben wir damit begonnen, in der Pflegeplanung genau zu dokumentieren, ob die Eltern beim Baden ihres Kindes mithelfen wollen. In Frühdiensten habe ich daher immer vorab in die Dokumentation geschaut und die Angehörigen dementsprechend in die Grundpflege einbezogen. Sie sehen also: Die Eltern waren für mich nie nur Besucher. Das hätte auch meinem professionellen Pflegeverständnis widersprochen. Wenn ich Vorträge zum Thema auf Kongressen, Tagungen oder Symposien halte, schließe ich meine Ausführungen immer mit den Worten: „Angehörige sind keine Besucher."
 

In Ihrer Doktorarbeit haben Sie sich mit der Angehörigenarbeit auf pädiatrischen und neonatologischen Intensivstationen beschäftigt. Wie ist es dazu gekommen?

Das Kinderkrankenhaus, in dem ich seit vielen Jahren beschäftigt bin, ist der Pflegewissenschaft grundsätzlich sehr positiv gegenüber eingestellt, besonders in der Pädiatrie und Neonatologie. Als ich vor einigen Jahren die Gelegenheit bekam, im Rahmen meiner Doktorarbeit ein Forschungsprojekt an meiner Klinik durchzuführen, habe ich sofort zugegriffen. Da mir die Angehörigenarbeit während meiner langjährigen Tätigkeit in der Kinderkrankenpflege sehr ans Herz gewachsen war, entschloss ich mich gemeinsam mit meinen Betreuern, dieses Thema wissenschaftlich genauer unter die Lupe zu nehmen.
 

Was genau haben Sie untersucht?

Das Ziel meiner Forschungsarbeit war die Entwicklung und Validierung eines Fragebogens, mit dem Pflegende in Form eines Assessments die Zufriedenheit von Eltern, deren Kinder auf Intensivstationen behandelt werden, messen können.

Wie sind Sie vorgegangen?

Begonnen hatte ich mit einer Befragung aller Pflegenden und Ärzte der pädiatrischen und neonatologischen Intensivstationen. Die Frage war, was ihrer Meinung nach die wichtigsten Bedürfnisse von Eltern sind, deren Kinder intensivmedizinisch behandelt werden. Heraus kam eine Liste von entsprechenden Items. Diese legte ich einer großen Gruppe von Elternteilen vor und bat sie darum, die Relevanz der Items zu bewerten. Dies ermöglichte mir, die Aussagen der Pflegenden und Ärzte mit denen der Elternteile zu vergleichen. Das Ergebnis: Die Aussagen der Elternteile unterschieden sich deutlich von denen der Mitarbeiter.
 

Kein überraschendes Ergebnis …

Nicht überraschend, aber zumindest machte es deutlich, dass wir hinsichtlich der Bedürfnisse von Angehörigen in Wahrheit kaum etwas wussten. Um mehr in die Tiefe gehen zu können, führte ich im Anschluss qualitative Interviews mit Eltern von 41 Kindern durch. Die Ergebnisse der drei beschriebenen Untersuchungen flossen in einen Fragebogen ein, der mittlerweile erfolgreich hinsichtlich seiner Wirksamkeit getestet wurde und mit dem die Angehörigenzufriedenheit demnach zuverlässig gemessen werden kann. Dies gibt den in der Pflege tätigen Personen die Möglichkeit, ihre Arbeit individuell anpassen zu können. In den Niederlanden wird mittlerweile auf sämtlichen Kinder-Intensivstationen mit dem Fragebogen gearbeitet.
 

Welche Ratschläge können Sie Intensivpflegenden auf Grundlage Ihrer Forschungsergebnisse geben?

Eltern möchten generell stark in die Pflege ihrer Kinder einbezogen werden, gerade auch was therapeutische Entscheidungen betrifft. Das haben meine Befragungen eindeutig gezeigt. Hierfür sind ein optimaler Informationsfluss und eine sehr gute Kommunikation zwischen Pflegenden und Angehörigen erforderlich. Der von uns entwickelte Fragebogen kann hier sehr hilfreich sein, weil er dem Behandlungsteam die Möglichkeit gibt, ihre Betreuung genau an den Bedürfnissen der Angehörigen auszurichten. Dies kommt letztlich den kleinen Patienten zugute. Eine Fragebogenerhebung kann in manchen Fällen aber auch zu hoch gegriffen sein. Oft genügt es auch schon, eine Frage zu stellen wie: „Was wünschen Sie für die Betreuung Ihres Kindes?" oder: „Welche Hilfestellung benötigen Sie?". Wichtig ist in jedem Fall, strukturiert vorzugehen und einen guten Informations- und Erfahrungsaustausch über die gesamte Zeit des Stationsaufenthaltes aufrechtzuerhalten.
 

Was ist Ihrer Meinung nach beim Umgang mit Angehörigen erwachsener Patienten zu beachten?

Ich sehe keinerlei Unterschiede zwischen den Bedürfnissen von Angehörigen minderjähriger und erwachsener Patienten. Insofern gilt das zuvor Gesagte definitiv auch hier – und zwar ohne Wenn und Aber. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Wenn ein Ehemann auf einer Erwachsenen- Intensivstation seine Frau besucht, der er im alltäglichen Leben wegen einer schweren rheumatischen Erkrankung immer beim Baden geholfen hat – würden Sie ihm nicht auch während der Krankenhausbehandlung erlauben, genau dies zu tun? Wenn eine Intensivpflegekraft dies ablehnt, hat das mit familienzentrierter Pflege nichts mehr zu tun. Gehen wir noch ein Stück weiter: Können Sie sich die Auswirkungen vorstellen, wenn man einen Patienten mit Sehverlust auf der Intensivstation von seinem Blindenhund trennt? Ich wette, Sie haben sich solch eine Frage nie gestellt – entschuldigen Sie bitte, aber auf diese Weise versuche ich stets, meine Kollegen herauszufordern, um Ihnen mein Anliegen zu verdeutlichen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir endlich damit beginnen müssen, unsere Pflege voll und ganz an den Bedürfnissen unserer Patienten und deren Angehörigen auszurichten. Hier bestehen noch deutliche Defizite.
 

Warum ist Angehörigenpartizipation eigentlich so ein heißes Eisen, gerade in der Intensivpflege?

Tja, das ist eine gute Frage. Meiner Meinung nach ist es vor allem eine Frage der Einstellung. Es hat aber auch viel mit der geschicht-lichen Entwicklung der Medizin und Pflege zu tun, die auch heute noch sehr stark das Zusammenspiel der an der Behandlung beteiligten Professionen prägt. Fragen, die sich hier auftun, sind vor allem, ob wir als professionelle Intensivpflegende über genügend Handlungsautonomie verfügen und autark Entscheidungen treffen können. Angehörigenintegration auf der Intensivstation ist meiner Meinung nach ausschließlich pflegerisches Hoheitsgebiet, um es überspitzt auszudrücken. Wir Pflegende sollten hier Stärke zeigen und es keinesfalls hinnehmen, wenn sich Ärzte für Restriktionen bei der Angehörigenintegration aussprechen. Forschungsergebnisse wie die meiner Studie können hier hilfreich sein, um wissenschaftlich fundiert zu argumentieren.
 

Sollten minderjährige Angehörige ein volles Besuchsrecht auf Intensivstationen haben?

Ich sehe keinen Grund, warum man Kindern den Zugang zur Intensivstation verwehren sollte. Denn es ist doch nur logisch, dass auch sie bei ihren Familienmitgliedern sein wollen, wenn sie schwer krank oder verletzt sind. Oft bekomme ich von Kollegen Argumente zu hören wie: „Das sind ja alles gute Ideen, die Sie haben, aber bitte nicht in meiner Schicht" oder: „Das ist zu zeitaufwendig, ich habe jetzt schon genug zu tun." Meine Antwort hierauf ist dann immer, dass wir schlicht und ergreifend nicht bedürfnisorientiert pflegen, wenn wir minderjährigen Angehörigen den Aufenthalt auf der Station verwehren. Es gibt verschiedene Guidelines und Handlungsrichtlinien, die gezielte Interventionen für minderjährige Angehörige beschreiben. Im Wesentlichen kommt es sehr darauf an, Kinder auf die Situation, die sie auf der Station erwartet, gezielt vorzubereiten. Sie müssen, abhängig vom jeweiligen Alter, gut betreut werden und benötigen altersgerechte Informationen, um die Situation verstehen und verarbeiten zu können.
 

Was ist Ihre Meinung: Sollten Angehörige bei Reanimationen dabei sein dürfen?

Ich würde dies in jedem Fall befürworten. Denn Patienten haben schlicht und ergreifend das Recht, ihre wichtigsten Bezugspersonen bei sich zu haben – auch während einer Reanimation. Deswegen wird dies in den Niederlanden, Großbritannien und Skandinavien auch so gehandhabt. Dennoch ist es sicher wichtig, hier behutsam und gut durchdacht vorzugehen. In unserem Krankenhaus werden etwa seit einiger Zeit Trainingseinheiten für Angehörige angeboten, um sie mit den Grundlagen einer Herz-Lungen-Wiederbelebung vertraut zu machen. Das Angebot richtet sich in erster Linie an diejenigen Angehörigen, bei denen abzusehen ist, dass sie in absehbarer Zeit mit einer solchen Situation konfrontiert werden könnten. Auch wenn das Thema durchaus kontrovers und provokativ diskutiert werden kann, so spricht die Wissenschaft hier übrigens eine klare Sprache: Alle Untersuchungen, die mir bekannt sind, haben ergeben, dass die große Mehrheit der Familienmitglieder auch im Falle einer Reanimation bei ihren Angehörigen sein wollen. Hier stellt sich in der Praxis erneut die Frage, ob wir unseren Patienten die bestmögliche Pflege zukommen lassen möchten, besonders bei den Patienten, die möglicherweise sterben könnten.
 

Wie weit sind niederländische Intensivstationen bei der Angehörigenintegration?

Besonders im pädiatrischen Bereich gehören die niederländischen Intensivstationen zu den liberalsten in Europa, was die Angehörigenpartizipation angeht. Dennoch ist es wichtig, dass wir weiterhin kontinuierlich ihre Zufriedenheit erfassen, um Rückschlüsse ziehen zu können, wie wir die Pflege noch stärker an den Bedürfnissen der Angehörigen ausrichten können.
 

Bestehen bei den Besuchszeiten Einschränkungen?

Nein, auf allen niederländischen Kinder-Intensivstationen können Patienten rund um die Uhr besucht werden. Es fehlen aber teilweise noch Schlafmöglichkeiten für Eltern, was aber eher etwas mit den baulichen Gegebenheiten und organisatorischen Strukturen zu tun hat. Meine Forschungsarbeit hat ganz klar gezeigt, dass hier nach Ansicht vieler Angehöriger noch Verbesserungspotenzial besteht. Angehörigenpartizipation ist eh nie statisch zu betrachten. Bedürfnisse sind sehr unterschiedlich und müssen immer wieder neu erhoben und evaluiert werden. Das ist auch angesichts der Zunahme multikultureller Familien eine ständige Herausforderung.
 

Was glauben Sie: Wie weit sind deutsche Intensivstationen in der Angehörigenintegration?

Ich denke, dass deutsche Intensivstationen noch einen weiteren Weg vor sich haben. Aber: Ich sehe auch, dass sich die Dinge in Deutschland stark wandeln. Familienzentrierte Pflege scheint bei deutschen Intensivpflegenden zunehmend auf Interesse zu stoßen, zumindest nehme ich das auf Kongressen in Deutschland so wahr. Zu hoffen bleibt, dass sich Angehörigenpartizipation auch in der Praxis immer mehr durchsetzt. Wie bereits gesagt: Pflegende sollten hier gegenüber Ärzten und Vorgesetzten selbstbewusst auftreten.
 

Was möchten Sie für die Zukunft noch erreichen?

Momentan besteht bei der Angehörigenintegration zwischen Nord- und Südeuropa ein starkes Gefälle. Und auch dazwischen bestehen starke Unterschiede: Manche Länder sind hier sehr fortschrittlich, andere stecken noch in den Anfängen, wieder andere haben sich mit dem Thema noch gar nicht auseinandergesetzt. Dies ist völlig inakzeptabel, denn – wie bereits gesagt – Patienten haben das Recht auf eine bestmögliche Pflege und Betreuung. Mein ultimatives Ziel ist ein allgemeingültiger Standard, der in ganz Europa praktiziert wird und der sich an den Bedürfnissen eines jeden Patienten und Angehörigen orientiert. Ich bin recht zuversichtlich, dass wir das noch schaffen.
 

Herr Dr. Latour, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

Das Interview führte Stephan Lücke.

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