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Praxisbeispiel.

„Ich bin stolz auf mich"

Bei der Frühmobilisierung beatmeter Intensivpatienten lassen sich gute Erfolge erzielen, wenn Maßnahmen konsequent an den Möglichkeiten des Patienten ausgerichtet werden. Zudem geht nichts ohne eine hervorragende Teamarbeit, wie ein Praxisbeispiel aus der Zentralklinik Bad Berka zeigt.

Sind Sie bereit, Frau Kaufmann?" – Die Patientin nickt ängstlich. Krankenpfleger Danny Schuchhardt kontrolliert die zahlreichen Zugänge und Schläuche der mit BiPAP beatmeten Patientin, Fachkrankenschwester Beate Bietzke wirft einen kritischen Blick auf den Monitor. „Passt!" Die beiden Kolleginnen von der Physiotherapie sprechen Renate Kaufmann* noch einmal Mut zu und transferieren die Patientin auf die Bettkante.

Dort sitzend, ist die 52-Jährige zunächst etwas aufgeregt und nervös. Die einfühlsame Zuwendung der Physiotherapeutinnen Anja Sonnenberg und Sandra Brüheim führt aber zu einer schnellen Beruhigung. Die Patientin lächelt kurz. „Gehen wir noch einen Schritt weiter?", fragt Danny Schuchhardt. Renate Kaufmann nickt, wenige Sekunden später sitzt sie entspannt im Therapiestuhl. Die Vitalwerte sind alle im grünen Bereich, die Mitarbeiter loben die schwerkranke Frau. Wieder lächelt sie und flüstert: „Ich bin stolz, dass ich das geschafft habe!"


Zentralklinik Bad Berka

Die Zentralklinik Bad Berka, 15 Kilometer südlich von Weimar gelegen, ist ein Schwerpunktkrankenhaus mit 19 Fachkliniken und Instituten sowie einem interdisziplinären Diagnostikum. Insgesamt verfügt die Zentralklinik über 669 Planbetten und ist mit rund 1700 Mitarbeitern der größte Arbeitgeber der Region.

Die interdisziplinäre Intensivstation mit bis zu 40 Beatmungsbetten ist Teil des Zentrums für Anästhesie, Intensivmedizin und Notfallmedizin und betreut schwerstkranke Patienten aller operativen und internistischen Fachdisziplinen. Weitere 44 operative Intermediate Care-Betten ermöglichen ein abgestuftes Therapiekonzept. Alle Organunterstützungsverfahren (kontinuierliche Nierenersatztherapie, IABP, PECLA, ECMO, HFOV) und sämtliche Formen des invasiven Monitorings (PAK, PICCO, ICP) kommen zur Anwendung.


 

Jeder Patient wird mobilisiert

Für eine Patientin wie Renate Kaufmann ist der passive Transfer in die Sesselposition bereits ein guter Erfolg. Vor 17 Tagen ist die lungenkranke Frau wegen einer respiratorischen Insuffizienz bei Pneumonie nach Bilobektomie auf der Intensivstation aufgenommen worden. Seitdem ist sie intubiert und beatmet, erhält eine Katecholamintherapie und wird künstlich ernährt. Während des Klinikaufenthalts in Bad Berka erlitt die Patientin eine Sepsis und ein ARDS. Weitere Diagnosen sind arterielle Hypertonie, Depression, Hyperthyreose und langjähriger Nikotinabusus.

„Frau Kaufmann ist durchaus eine Herausforderung für die Frühmobilisierung, allein wegen der ganzen laufenden Therapien", sagt Danny Schuchhardt. Auch ihre Depression mache es nicht leicht, sie überhaupt dazu zu bewegen, das Bett zu verlassen. Aufzustehen, ohne schlappzumachen oder sich hängenzulassen, sei für diese Patientin schon einmal ein gutes Zeichen.

Danny Schuchhardt und Beate Bietzke sind in der Zentralklinik Bad Berka die Experten für das Thema Frühmobilisierung beatmeter Patienten. Sie begleiten die Umsetzung in der Abteilung, stehen Kollegen mit Rat und Tat zur Seite und tragen das eigens entwickelte Instrument mittels Vorträgen auf Kongressen und Publikationen nach außen.

Den Stein ins Rollen gebracht hatte eine Fortbildungsveranstaltung zum Thema Frühmobilisierung vor vier Jahren in Weimar, an der Schuchhardt und Bietzke gemeinsam mit zwei Kollegen von der Physiotherapie teilgenommen hatten. „Das war für uns ein richtiges Aha-Erlebnis", erinnert sich Beate Bietzke. „Denn eigentlich hatten wir das, was uns auf diesem Kongress vermittelt wurde, alles schon in der Praxis umgesetzt – allerdings ohne wirklich zu wissen, was wir da tun." Vieles sei intuitiv, auf Zuruf und oft zu spät umgesetzt worden – zum Nachteil der Patienten. „Das gab den Anstoß, uns zusammenzusetzen und ein Instrument zu entwickeln, um unsere Handlungen künftig konzeptgeleitet umsetzen zu können", fügt Danny Schuchhardt hinzu.

Das Ergebnis waren die „Toleranzkriterien zur Frühmobilisierung kritisch Kranker" (Abb. 1), die laut Schuchhardt und Bietzke zeitgleich zum oft zitierten Pendant der Kollegen Rothaug, Nydahl und Flohr entwickelt wurden. „Kriterien, beispielsweise ob ein Patient wach ist oder nicht, ob er beatmet wird oder nicht, sind für uns nicht entscheidend", bringt Schuchhardt die Unterschiede zu anderen Algorithmen auf den Punkt. Mobilisiert wird grundsätzlich jeder Patient, selbst bei laufender Dialyse. Auch die Aggressivität der Beatmung, das O2 und die Vigilanz spielen eine untergeordnete Rolle.

Hauptkriterium ist in Bad Berka immer die Frage, was für den Patienten gut und machbar ist. „Wir arbeiten auf einer großen interdisziplinären Intensivstation und verstehen uns eher als Praktiker, weniger als Wissenschaftler", sagt Beate Bietzke.

Mobilisiert wird aber nicht um jeden Preis. So sind bei den Vitalparametern klare Toleranzbereiche definiert. Auch werden keine Patienten mit instabiler Wirbelsäulenverletzung, Patienten mit hohem Hirndruck oder frisch reanimierte Patienten mobilisiert. Vieles ist Einzelfallentscheidung und wird im interdisziplinären Team erörtert. Hierbei fließen auch wissenschaftliche Erkenntnisse mit ein, die allein jedoch nicht richtungsweisend sind.

„Uns ist durchaus bewusst, dass wir uns von vergleichbaren Konzepten deutlich abgrenzen", sagt Schuchhardt. „Doch wir fahren mit unserem Instrument sehr gut. Die Akzeptanz im Intensivteam ist hoch, und es hat auch noch kein einziges Mal eine Komplikation gegeben."

Toleranzkriterien zur Frühmobilisierung kritisch Kranker (Abb. 1)

Parameter Toleranzbereich Zu beachten 1. Herzfrequenz
Einbeziehung aktueller klinischer Patientendaten 60–140/min   2. Blutdruck
Einbeziehung aktueller klinischer Patientendaten Systolisch 95–200 mmHg   3. Sauerstoffsättigung
Einbeziehung aktueller klinischer Patientendaten 92% Bei COPD-Patienten 87% 4. Körpertemperatur
Einbeziehung aktueller klinischer Patientendaten Bis 39 Grad Celsius   5. Intravasale Zugänge
Arterielle Kanüle und ZVK sind keine Kontraindikationen für eine Mobilisierung Sonderfälle:
V. femoralis: ZVK
V. femoralis: Dialysekatheter
Mobilisation: ja
Mobilisation: ja (wenn Dialyse störungsfrei funktioniert) 6. Assistsysteme
IABP, eingeschwemmter Schrittmacher, ECMO Sitzen im Bett: ja, erhöhter Oberkörper: ja Immer Einzelfallentscheidung mit dem zuständigen Oberarzt 7. Laufende Transfusion
Blut, Plasma, Gerinnungsfaktoren   Nur bis Bettkante 8. Katecholamintherapie Dosierungsabhängig Ggf. Kompression und Volumengabe beim Aufsetzen 9. Noninvasive Beatmung
BiPAP, CPAP   Immer Mobilisation 10. Gangschule mit Thoraxdrainagen   Ja, aber mit Sog! 11. Neurochirurgie
– Blutdruck
– ICP
– ELD Zeitig und stufenweise Aufsetzen unter Einhaltung der Hirn- und Blutdruckvorgaben Immer Einzelfallentscheidung mit dem zuständigen Oberarzt 12. Kardiochirurgie
– Fast-Track mit Assistenzarzt!
– Aortendissektion/Aorten-Asc.-Ersatz

– Offenes Sternum
– IABP – 2 Std. nach Extubation!
– Nach Rücksprache
(wenn extubiert, wie Fast-Track)

– Bis Herzbett
– Bis Herzbett   13. Kardiologie
– Druckverband nach HKU


– Druckverband nach IABP-Entfernung  
– Nach 6 Std. (Beachte: Dauer der
Antikoagulationstherapie)
– Nach 24 Std. 14. Unfallchirurgie
Polytrauma   Immer Einzelfallentscheidung mit dem zuständigen Oberarzt 15. Pulmologisch instabil
Besondere Lagerungsschemata wie Rotorest, Bauchlage, überdrehte Seitenlage, HFOV Oberkörperhochlagerung bis zur sitzenden Position Immer Einzelfallentscheidung

 

Konzept wird weiterentwickelt

Derzeit arbeitet die Bad Berkaer Projektgruppe Frühmobilisierung an einer Aktualisierung der Toleranzkriterien. „Verschiedene Punkte unseres Instruments haben sich im Laufe der Zeit als überflüssig herausgestellt oder sind obsolet geworden", stellt Beate Bietzke klar. „So sollten intravasale Zugänge beispielsweise künftig kein Kriterium mehr sein, und bei der Katecholamintherapie ist unsere Erfahrung, dass die Dosis keine Rolle spielt. Ob man mobilisiert oder nicht, sollte vom Einzelfall abhängig gemacht werden."

Danny Schuchhardt ist zudem der Erfahrungsaustausch in der Fachwelt wichtig. Deswegen stellt er das Bad Berkaer Konzept regelmäßig auf Kongressen und Mitarbeitern anderer Kliniken vor. Zudem engagiert sich der weitergebildete Wundexperte im Netzwerk Frühmobilisierung beatmeter Intensivpatienten, zu dessen Gründungsmitgliedern er zählt. „Wir sind eine interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft, die zum Ziel hat, die Rehabilitation und Lebensqualität von beatmeten Intensivpatienten zu verbessern", erläutert Schuchhardt. Das Netzwerk tauscht Informationen aus, teilt Erfahrungen mit, unterstützt mit Vorträgen sowie Fortbildungen und fördert die Implementierung in der Praxis. „Es ist immer schön, über den eigenen Tellerrand zu schauen und die Augen offen zu halten – sonst wird man irgendwann Fachidiot", sagt Schuchhardt augenzwinkernd.

„Eine tolle Leistung"

Auf der Intensivstation des Zentralklinikums musste das Sitzen in der Sesselposition nach einigen Minuten abgebrochen werden. „Trotz guter Vitalwerte wurde Frau Kaufmann immer unruhiger und gab uns deutlich zu verstehen, wieder zurück ins Bett zu wollen", sagt Physiotherapeutin Anja Sonnenberg. „Das haben wir natürlich akzeptiert, auch wenn wir damit unser Ziel nicht erreicht haben, die Patientin eine Stunde lang zu mobilisieren."

Das interdisziplinäre Team ist mit dem Ergebnis trotzdem zufrieden. „Die Patienten hat beim Transfer zurück ins Bett sehr gut mitgeholfen und sogar für einen kurzen Moment aktiv auf dem Boden gestanden", äußert Sonnenberg. „Das ist für diese schwerkranke Frau eine tolle Leistung, mit der wir zunächst einmal sehr zufrieden sind."

Für den Nachmittag sind bereits die nächsten Maßnahmen geplant. Die Kollegen vom Spätdienst werden Frau Kaufmann, sofern es ihr Zustand zulässt, erneut aus dem Bett mobilisieren. „Zumindest werden wir Übungen an der Bettkante durchführen", sagt Danny Schuchhardt und fügt hinzu: „Alles, was beim Patienten möglich und machbar ist, setzen wir um. Das ist unsere Devise."

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