Nachlassendes Engagement und innerer Rückzug vom Stationsgeschehen können viele Gründe haben. Nicht jede Belastung ist automatisch ein Burnout. Peter Jacobs, langjähriger Pflegedirektor des Klinikums der Universität München (KUM) rät, Verhaltensveränderungen und Anzeichen von Überlastung ernst zu nehmen und frühzeitig zu intervenieren.
Sie sind seit 17 Jahren Pflegedirektor des KUM und damit Vorgesetzter von mehr als 3.000 Mitarbeiterinnen im Geschäftsbereich der Pflegedirektion. Wie ist Ihre Einschätzung: Hat das Problem Burnout zugenommen?
Wenn wir über Burnout sprechen, müssen wir erst einmal definieren, was wir darunter verstehen. Es gibt – vielleicht außer Mobbing – keinen Begriff, der so inflationär und falsch benutzt wird, wie der des Burnout-Syndroms. Nicht jede Unzufriedenheit am Arbeitsplatz, nicht jede Belastung durch Arbeitsverdichtung ist automatisch ein Burnout. Burnout ist ein durchaus dramatisches Krankheitsbild, das behandlungsbedürftig ist. Außerdem versteckt sich hinter dem laienhaft fahrlässig gebrauchten Begriff des Burnout häufig eine manifeste Depression.
Vor diesem Hintergrund sage ich: Burnout hat nicht zugenommen. Ich wüsste auch nicht, wer hier belastbare Zahlen vorgelegt hat oder vorlegen könnte. Zugenommen hat in allen Berufen im Gesundheitswesen jedoch die Arbeitsbelastung.
Falls es sich um ein Burnout handelt: Was sind erste Anzeichen, die Stationsleitungen und Kollegen wahrnehmen können?
Burnout trifft fast ausschließlich Mitarbeiter, die besonders leistungsstark sind und sich mit ihrem Beruf sehr stark identifizieren, die sich aber schlecht abgrenzen können. Typisch für ein Burnout ist, dass ehemals sehr motivierte Mitarbeiter in ihrem Engagement nachlassen und sich aus dem Stationsgeschehen zurückziehen. Dabei handelt sich aber um sehr unspezifische Veränderungen, die völlig andere Ursachen haben können. Es ist meiner Meinung nach für Laien und dazu gehören auch Stations- und Abteilungsleitungen fast unmöglich, Anzeichen für ein echtes Burnout sicher zu erkennen.
Was können andere Ursachen sein, die zu einem Rückzug vom Stationsgeschehen führen?
Das ist ganz unterschiedlich. Eine mögliche Ursache ist, dass eine Pflegeperson sehr unter der Trennung von dem Lebensgefährten leidet, dies aber ihren Kollegen nicht erzählt. Oder es kommt vor, dass Mitarbeiter privat verschuldet sind und durch diese Situation so stark belastet sind, dass sie ihre Arbeit nicht mehr wie gewohnt erledigen können – ich will damit andeuten, dass es nicht zwangsläufig berufliche Gründe sein müssen. Nachlassendes Engagement und innerer Rückzug vom Stationsgeschehen können viele Gründe haben und deuten nicht in jedem Fall auf ein Burnout hin. Aber ganz gleich, was die Ursache ist: Fallen Verhaltensauffälligkeiten auf, die früher nicht da waren, haben Stationsleitungen die Pflicht zu intervenieren.
Wie kann so etwas aussehen?
Wenn es zu wie immer gearteten Auffälligkeiten bei Mitarbeitern kommt, wird dies – hoffentlich – in einem sofort anberaumten Mitarbeitergespräch angesprochen. Je nach Symptomen und Verlauf sollte frühzeitig eine Fachfrau oder ein Fachmann hinzugezogen werden. Bei einem tatsächlichen Burnout haben Stationsleitungen meines Erachtens alleine keine Chance, erfolgreich zu intervenieren. Absolute Priorität im Rahmen der Burnout-Prophylaxe durch Vorgesetzte ist, dafür Sorge zu tragen, dass auf der Station ein Klima der Wertschätzung innerhalb des gesamten Stationsteams herrscht. Dazu gehören dann nicht nur die Pflegenden und Ärzte, sondern auch die zuständige Physiotherapeutin, die Reinigungskraft, die Sekretärin usw. Ich bin immer wieder entsetzt, wenn ich merke, wie sehr wir uns im Krankenhaus gegeneinander abgrenzen. Gerade ein gespanntes Arbeitsklima kann eine Ursache für ein Burnout sein.
Was kann neben einem entspannten Arbeitsklima helfen, Problemsituationen zu entschärfen?
In bestimmten Situationen coachen wir am Klinikum München Einzelpersonen oder ganze Teams. Wir hatten beispielsweise den Fall, dass auf einer unserer Intensivstationen ein immens hoher Anteil der Patienten verstorben ist – hier vor allem viele sehr junge Patienten. Die Folge war, dass das gesamte Team in ein Loch gestürzt ist und angefangen hat, die Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit zu hinterfragen. Wir haben dann ein Coaching für das gesamte Team angeboten – und nach diesen zehn Doppelstunden war das Team wirklich wieder aufgerichtet. Das Coaching war auch nicht besonders teuer, es hat knapp 3 000 Euro gekostet. Was sind schon 3 000 Euro, um das Team einer Intensivstation wieder aufzubauen? Es ist aber auch schon vorgekommen, dass ein Team ein angebotenes Coaching ablehnt hat.
Aus welchen Gründen?
Man lege sich nicht auf die Couch, hieß es dann zum Beispiel. Wenn so argumentiert wird, kann man natürlich nichts machen. Da spielen Nichtwissen und Vorurteile aber auch die Angst vor Veränderung eine große Rolle. Aber meistens ist ein Coaching oder eine Supervision sehr hilfreich. Wir hatten zum Beispiel den Fall einer jungen Stationsleitung auf einer Intensivstation, die neu angefangen hatte, und die haben die „alten Hasen" unter den Intensivpflegenden ständig auflaufen lassen und ihr das Leben wirklich schwer gemacht. Dieser jungen Stationsleitung haben wir ein Coaching gegeben, um ihr Selbstbewusstsein für die neue Position zu stärken – zehn Doppelstunden sind meist Standard, manchmal wird noch aufgestockt. Parallel haben wir mit den beiden beteiligten Intensivschwestern gesprochen und klar vermittelt: Wenn wir nochmal Klagen hören, werden Sie auf eine andere Intensivstation versetzt. Das zusammen war dann erfolgreich.
Wie wichtig ist hier ein entschiedenes Handeln der Vorgesetzten?
Sehr wichtig. Eine Ursache für Erschöpfung kann nämlich auch in der Person der Leitung liegen. Das heißt: Wenn Leitungskräfte ihre Leitungsaufgaben nicht wirklich wahrnehmen, Konflikten aus dem Weg gehen oder auch Dinge aus Bequemlichkeit einfach laufen lassen, kann daraus eine sehr hohe Unzufriedenheit bei den Mitarbeitern resultieren.
Wie versuchen Sie, gegen eine tatsächliche Überlastungssituation in der Intensivpflege anzugehen? Die Arbeitsbelastung hat ja enorm zugenommen.
Wir haben am KUM Überlastungsanzeigen für Mitarbeiter institutionalisiert. Das heißt, es gibt Vordrucke, die von den Mitarbeitern ausgefüllt werden, und die werden dann an die Personalabteilung geschickt. Diese sendet dann jeweils eine Kopie an die Mitarbeiter-Vertretung und an den jeweiligen Vorgesetzten, das sind die Pflegebereichsleiterin und ich als Pflegedirektor. In meinem Geschäftsbereich wird jede Überlastungsanzeige dann an die Leiterin des Gesundheitsmanagements weitergeleitet. Diese prüft dann: Worum geht es hier genau? Warum ist die Überlastung entstanden? Vor kurzem hat beispielsweise eine Mitarbeiterin eine Überlastungsanzeige geschrieben, und hier stellte sich heraus, dass auf der betroffenen Intensivstation mehrere Patienten mit ECMO-Behandlung lagen. Eine ECMO-Behandlung ist sehr aufwendig und erfordert eine 1:1-Betreuung. Mit einem normalen Intensiv-Personalschlüssel bekommen Sie die Betreuung mehrerer ECMO-Patienten nicht hin.
Was machen Sie in Fällen wie diesen?
Entweder es muss vorübergehend mehr Personal eingesetzt werden, oder es muss ein Übereinkommen mit den Ärzten getroffen werden, wie viele Patienten mit ECMO maximal auf der Station betreut werden können. Wenn man hier nicht handelt, brennen die Mitarbeiter leicht aus oder sie kündigen ganz einfach.
Sie haben seit einem Jahr ein Konfliktmanagement an Ihrem Klinikum etabliert. Was macht dieses genau?
Unsere Mitarbeiterin für betriebliche Sozialberatung und Konfliktmanagements bietet Sprechstunden an, in der sich Mitarbeiter unseres Hauses bei Problemen – ob beruflicher oder privater Art – beraten lassen können. Zudem wird die Mitarbeiterin des Konfliktmanagements von der Abteilungsleitung informiert, wenn auf einer Station ein Konflikt eskaliert. Kürzlich ist auf einer Station beispielsweise ein Streit eskaliert, weil zwei Krankenschwestern sich im wahrsten Sinne des Wortes nicht riechen konnten. Die eine fand das Parfum der anderen so unerträglich, dass dieser Konflikt beim Konfliktmanagement landete. Dabei muss man natürlich sagen: Dies ist definitiv kein Fall für das Konfliktmanagement, sondern hier ist die zuständige Leitungsperson gefragt, solch einen Konflikt zu entschärfen.
Was sind denn typische Fälle fürs Konfliktmanagement?
Berufliche Probleme können Stress mit Vorgesetzten sein, Konflikte mit anderen Mitarbeitern oder auch interdisziplinäre Konflikte, zum Beispiel zwischen Pflegenden und Ärzten. Private Probleme können beispielsweise Verschuldung oder auch Obdachlosigkeit sein.
So etwas kommt vor?
Eine Obdachlosigkeit kann zum Beispiel durch Trennung entstehen. Einer muss ausziehen, findet keine Wohnung und lebt dann beispielsweise im Auto. Wir hatten einige Fälle, in denen Mitarbeiter unseres Klinikums ohne eigene Wohnung waren. Und in solchen Fällen muss sich der Arbeitgeber natürlich kümmern. Ich habe immer schon gesagt: Wir müssen in Belastungs- oder auch Konfliktsituationen punktuell unterstützen, das ist die Pflicht eines jeden Arbeitgebers, und wir müssen die Arbeitnehmer als ganze Menschen wahrnehmen, also auch dann, wenn Probleme aus dem privaten Bereich die berufliche Leistungsfähigkeit einschränken.
Denken Sie, dass eine Anlaufstelle wie das Konfliktmanagement in Ihrem Haus auch Burnout-Fälle verhindern kann?
Bestimmt. Ob das in jedem Fall erfolgreich ist, weiß man natürlich nicht. Wichtig ist, dass die Leute wissen, da ist jemand, an den ich mich wenden kann und das ist nicht der Vorgesetzte. Da bestehen verständlicherweise Hemmschwellen. Unsere Erfahrung zeigt, dass das Konfliktmanagement sehr gut und mit steigender Tendenz angenommen wird.
Was raten Sie Pflegenden, was sie tun können, um sich bei steigender Arbeitsbelastung vor Burnout zu schützen?
Sie brauchen an allererster Stelle ein ausgeglichenes Privatleben, wie immer das auch aussehen mag. Wer keinen Ausgleich zu beruflichen Belastungen hat, ist hochgradig gefährdet, ins Burnout zu rutschen oder den Job nach drei bis vier Jahren aus Überlastung an den Nagel zu hängen. Mein zweiter Rat: Schauen Sie, ob ihr Arbeitgeber Angebote macht, die der Gesunderhaltung und Burnout-Prophylaxe dienen. Falls nicht: Konfrontieren Sie ihn damit, was andere machen. Legen Sie ihm das Interview vor und fragen Sie: Warum haben wir kein Konfliktmanagement? Warum gibt es kein Coaching für neue Stationsleitungen oder eine Hilfestellung bei außergewöhnlichen Belastungssituationen? Hier wird sich in Zukunft die Spreu vom Weizen trennen. Arbeitgeber, die nicht bereit sind, Geld für die Gesundheit ihrer Mitarbeiter auszugeben, werden im Wettbewerb um die besten Fachkräfte den Kürzeren ziehen.
Danke für das Gespräch, Herr Jacobs.
Das Interview führte Brigitte Teigeler.
Buch-Tipp von Peter Jacobs:
Lohmer, M., Sprenger, B., von Wahlert, J.: Gesundes Führen. Life Balance versus Burnout im Unternehmen. Schattauer Stuttgart 2012 ISBN 978-3-7945-2883-7