Wenige Wochen vor der Bundestagswahl haben wir uns mit dem Präsidenten des Deutschen Pflegerats (DPR), Andreas Westerfellhaus, zusammengesetzt und über Enttäuschungen und Erwartungen gesprochen. Im ersten Teil unseres großen „Spätsommerinterviews" beklagt er den pflegepolitischen Totalausfall der schwarz-gelben Bundesregierung und fordert tragfähige Lösungen für die Zusammenarbeit von Ärzten und Pflegenden, bessere Rahmenbedingungen und Personalmindeststandards.
Herr Westerfellhaus, der Wahlkampf gewinnt allmählich an Fahrt, die Gesundheitspolitiker scheinen sich auf das Thema Pflege zu konzentrieren. Eine gute Nachricht für die Pflegenden und die Gepflegten?
Natürlich freue ich mich, dass es uns gelungen ist, das Thema Pflege im Wahlkampf zu positionieren und die Politiker zu sensibilisieren. In der Wertigkeit der Bevölkerung liegt das Thema Versorgung mit pflegerischen Leistungen mittlerweile auf Platz drei. Das ist ein großer Erfolg, zu dem auch unsere Kampagne „Ich will Pflege" beigetragen hat.
Gibt es auch Anlass für Pessimismus?
Ja sicher. Auch vor den zurückliegenden Wahlen gab es viele Versprechungen. In den Koalitionsverhandlungen ist dann davon aber kaum etwas übriggeblieben.
Lassen Sie uns kurz Bilanz ziehen zu vier Jahren FDP-Gesundheitspolitik. Ärztepräsident Montgomery findet, dass die Zusammenarbeit mit Herrn Rösler und Herrn Bahr viel besser war als unter deren Vorgängerin Ulla Schmidt von der SPD. Teilen Sie diese Analyse?
Es ist schon sehr merkwürdig, wenn ein SPD-Ärztepräsident – Herr Montgomery gehört bekanntlich dieser Partei an – einen FDP-Minister in dieser Weise lobt. Offenkundig hat die FDP in den vergangenen vier Jahren besonders viel für die Ärzte geleistet, andernfalls würde der Präsident der Bundesärztekammer wohl kaum solch eine Lobeshymne auf Herrn Rösler und Herrn Bahr singen. In der Pflegepolitik teile ich in keiner Weise das positive Urteil des Ärztepräsidenten über die beiden FDP-Gesundheitsminister.
Weshalb?
CDU, CSU und FDP haben den Pflegekräften und den Pflegebedürftigen viel versprochen, aber nichts davon eingehalten. Pflegepolitisch ist diese Regierung ein Totalausfall. Wir haben vier Jahre verloren. Zur Erinnerung: Im Koalitionsvertrag wurden Maßnahmen vereinbart, um die Versorgung der Bevölkerung mit professionellen Pflegeleistungen sicherzustellen, etwa durch die Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Nichts davon ist übriggeblieben. Gerade der FDP muss ich deshalb vorwerfen, lupenreine Klientelpolitik allein zu Gunsten der Ärzte betrieben zu haben.
Inwiefern?
Ein Beispiel: Herr Bahr hat es geschafft, eine neue Honorarordnung für die Zahnärzte durchzuwinken, sich aber dem Berufsbild der Pflegenden überhaupt nicht gewidmet.
Herr Montgomery hat im Interview mit Station24 erklärt, dass Parteien des linken politischen Spektrums generell Probleme mit dem Arztvorbehalt hätten und die Stellung der Ärzte schwächen wollten, um im Wahlkampf bei Pflegekräften zu punkten. Was sagen Sie dazu?
Das ist pures Wahlkampfgetöse der Ärztelobby. Es ist der falsche Weg, die einzelnen Berufsgruppen im Gesundheitswesen gegeneinander zu positionieren. Wir müssen endlich begreifen, dass es im Lichte der demografischen Entwicklung nötig ist, berufsübergreifend den Patienten in den Mittelpunkt zu stellen und zu klären, wer angesichts des Nachwuchsmangels in fast allen Berufen den Patienten in welcher Situation am besten versorgen kann. Also: Keine Klientelpolitik, keine Parteipolitik! Wir haben eine enorme gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu bewältigen.
Inhaltlich geht es in der Debatte zwischen Ärzten und Pflegekräften vor allem um die Reizworte Substitution und Delegation ärztlicher Aufgaben. Wie beurteilen Sie die Bereitschaft der Ärzte und der Politik, hier zu Lösungen zu kommen?
Auch hier sind von der Politik nur sehr wenige Aussagen gekommen und schon gar keine Ergebnisse. Die Worte Substitution und Delegation haben sich dabei zu echten Unworten entwickelt. Darum geht es überhaupt nicht. Es geht um die Frage, wie die qualifizierten Berufsgruppen im Gesundheitswesen künftig sicherstellen können, dass die Patienten gut versorgt werden. Das kann keine Berufsgruppe alleine, weder die Ärzte noch die Pflegenden. Wir müssen den Patienten in den Mittelpunkt stellen und dann prüfen, wer welche Leistungen qualitativ und quantitativ in welcher Region wie anbieten kann. Wir brauchen ein völlig neue Denke.
Ist das nicht sehr theoretisch formuliert?
Überhaupt nicht! Im Gegenteil! In der Praxis funktioniert das mittlerweile in vielen Bereichen bereits sehr gut. Vieles würde in der Versorgung doch heute schon nicht mehr funktionieren, wenn Ärzte und Pflegekräfte vor Ort immer prüfen würden, wer etwas darf und offiziell kann. Die Aufrechterhaltung des Betriebs erfordert eine enge Zusammenarbeit jenseits der klassischen Grenzen der Berufsbilder. Allerdings bremsen die institutionellen Vertreter der Ärzteschaft an vielen Stellen weitere Fortschritte in der Zusammenarbeit und Vernetzung medizinischer und pflegerischer Leistungen. Es wird ihnen aber nicht gelingen, den Trend aufzuhalten. Die Entwicklung spricht für sich. Es werden in der Versorgung Fakten geschaffen, an denen niemand vorbeikommt.
Können Sie das an einem Beispiel konkret machen?
Wenn in einer Region die Zahl der Hausärzte sinkt, dann darf man nicht nur dafür plädieren, mehr Studienplätze zu schaffen. Das allein wird das Problem nicht lösen, denn Fakt ist, dass auch die Zahl der jungen Menschen, die ein solches Studium aufnehmen könnten, sinkt. In dieser Situation müssen Lösungen her, so dass bestimmte Leistungen auch ohne Ärzte erbracht werden können, etwa von qualifizierten Pflegekräften. Ein Beispiel dafür ist die Versorgung chronischer Wunden. Hier können Pflegekräfte in der Vernetzung mit Hausarztpraxen sehr wohl eigenständige Aufgaben übernehmen. Das gleiche gilt für viele Leistungen in den Krankenhäusern.
Heißt das, Pflegekräfte und Ärzte lösen die Probleme jenseits von Politik und Funktionären?
Nein, für dauerhaft tragfähige Lösungen müssen sich natürlich auch die Rahmenbedingungen verändern. Es geht dabei um berufsrechtliche, tarifrechtliche und budgettechnische Fragen.
Herr Bahr sagt, jetzt liegen alle Vorschläge für eine große Pflegereform auf dem Tisch. Wie optimistisch sind Sie, dass die neue Regierung in den nächsten vier Jahren die Vorschläge umsetzt?
Die Enttäuschungen der vergangenen Jahre haben mich gelehrt, solchen Versprechungen mit Vorsicht zu begegnen. Mir hat bisher niemand erklären können, warum bei der Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs nicht mehr passiert ist als die erneute Erstellung eines Berichts. Der Minister verspricht, dass er sich nach der Wahl sofort an die Umsetzung der Ergebnisse des Berichts machen will. Genau die gleichen Versprechungen haben wir vor der letzten Wahl auch gehört.
Also glauben Sie nicht, dass es zu einer umfassenden Reform kommt?
Es geht um Grundsatzentscheidungen und letztlich auch um die Frage, wie viel zusätzliches Geld für eine bessere Pflege bereitgestellt wird. Diese politischen Entscheidungen hätten auch vor der Wahl gefällt werden können.
Was konkret erwarten Sie von der neuen Regierung?
Die Empfehlungen des Expertenbeirats sind sicher vernünftig, sie müssen jetzt endlich umgesetzt werden. Außerdem brauchen wir ein Bekenntnis zur professionellen Pflege. Die Regierung spricht viel über neue Wohnquartiere, die Stärkung des Ehrenamts und ambulante Pflegedienste. Das ist alles richtig. Aber am Ende wird es ohne professionelle Pflegekräfte nicht gehen.
Also geht es am Ende vor allem darum, mehr Geld ins System zu pumpen?
Natürlich geht es auch um mehr Geld, aber eben nicht nur. Ich rate davon ab, ohne klare Konzepte mehr Geld bereitzustellen. Es ist viel Geld im System, es ist aber falsch verteilt. Und dann geht es natürlich auch darum, Bürokratie abzubauen. Wir pflegen mittlerweile mehr Papier als Menschen.
Was halten Sie von dem Vorschlag der SPD, den Beitragssatz zur gesetzlichen Pflegeversicherung um 0,5 Prozentpunkte zu erhöhen und dafür 125.000 neue Stellen für Pflegekräfte schaffen?
Sicher, ich höre solche Botschaften gerne, allein mir fehlt der Glaube. Wie viele Versprechungen von allen Parteien haben wir dazu in den vergangenen Jahren gehört! Wir brauchen natürlich mehr Pflegekräfte. Die Pflegenden wünschen sich nicht in erster Linie höhere Gehälter, sondern physische und psychische Entlastung, mehr Zeit und weniger Druck, und das geht nur durch mehr Pflegekräfte. Es gibt heute Stationen, auf denen eine Pflegekraft zusammen mit einem Auszubildenden oder einer Praktikantin die Versorgung von 30 bis 40 Patienten sicherstellt. Das ist gefährlich, das sind unzumutbare Rahmenbedingungen.
Da wären 125.000 neue Kollegen also willkommen?
Selbstverständlich! Aber die Frage lautet: Wo können neue Kolleginnen und Kollegen gewonnen werden? Wir verlieren jeden Tag Pflegende, weil sie die Belastung nicht mehr stemmen können. Sie arbeiten nur noch in Teilzeit, wechseln den Beruf oder wandern ins Ausland ab. Wir müssen diesen Exodus stoppen.
Ist das nicht ein Teufelskreis: Der Druck steigt, Pflegekräfte scheiden deshalb aus dem Beruf aus, dadurch sinkt der Personalstand, was wiederum den Arbeitsdruck steigen lässt?
Dieser Teufelskreis lässt sich mithilfe von Personalmindeststandards durchbrechen. Das fordert der Deutsche Pflegerat schon lange.
Ist das der richtige Weg? Wir schreiben das 21. Jahrhundert, sprechen über dezentrale Entscheidungen, und nun fordern Sie solche zentralistischen Lösungen?
Bisher haben alle anderen Alternativen versagt. Im System der Fallpauschalen können die Träger das Geld willkürlich einsetzen, zu Lasten der Pflege. In den vergangenen Jahren wurden in den Kliniken 50.000 Pflegestellen abgebaut. Da kann die Antwort doch nur lauten, dass die Ausstattung von Stationen mit Pflegekräften gesetzlich geregelt wird.
Was halten Sie davon, den Krankenhäusern finanzielle Anreize für eine qualitativ hochwertige Pflege zu geben, etwa über Abschläge auf die Fallpauschalen, wenn Patientenbefragungen ein negatives Urteil über die Pflege in einem Haus ergeben?
Das ist doch Theorie! Wir brauchen Lösungen, die jetzt schnell greifen. Es hilft übrigens auch nicht, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), also die Selbstverwaltung aus Krankenkassen, Ärzten und Krankenhäusern, nun für jeden Bereich einzelne Vorschläge macht.
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) sagt, wer anschafft, soll auch zahlen, wer also bestimmte Personalstandards vorschreibt, soll auch das entsprechende Geld dafür bereitstellen. Was sagen Sie dazu?
Sicher, es geht nicht, dass der Gesetzgeber oder der G-BA ständig neue Vorgaben macht, ohne Gelder für deren Finanzierung bereitzustellen. Das gilt auch für die vom G-BA beschlossenen Fachkraftquoten etwa auf den Frühchen-Stationen. Hier gebe ich der DKG recht. Es stimmt auch, dass die Kliniken in den vergangenen Jahren nicht mal einen finanziellen Ausgleich für die Tariflohnsteigerungen, geschweige denn die höheren Sachkosten, erhalten haben. Auch hier besteht dringender Handlungsbedarf.
Kritisieren Sie nun den Gesetzgeber oder die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV), die im G-BA den Ton angibt?
Letztlich handeln wir alle unter den vom Gesetzgeber erstellten Rahmenbedingungen. Deshalb ist in erster Linie der Gesetzgeber gefragt.
Das Gespräch führte Stephan Balling.