Die Debatte um die Zulässigkeit der Sterbehilfe ist keineswegs neu. Schon vor über 100 Jahren wurde das vermeintliche Selbstbestimmungsrecht über das Ende des eigenen Lebens betont. Der Blick in die Vergangenheit mahnt jedoch zur Wachsamkeit. Die Gefahr der Ausweitung einst eng gefasster Grenzen ist groß.
Am 26. August 2013 setzte der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf seinem Leben durch Suizid ein Ende. Er erschoss sich am Berliner Landwehrkanal, nachdem er drei Jahre vergeblich gegen seinen Hirntumor angekämpft hatte. In seinem Blog „Arbeit und Struktur" schrieb er 2010: „Was ich brauche, ist eine Exitstrategie. ... Weil, ich wollte ja nicht sterben, zu keinem Zeitpunkt und will es auch jetzt nicht. Aber die Gewissheit, es selbst in der Hand zu haben, war von Anfang an notwendiger Bestandteil meiner Psychohygiene."
Für viele Menschen mit schweren, unheilbaren, früher oder später zum Tode führenden Erkrankungen scheint es ein Ausweg zu sein, den Zeitpunkt des Todes selbst bestimmen zu können und ihrem Leiden dann ein Ende zu setzen, wenn sie es für richtig halten. Dieser Wunsch nach Kontrolle über das eigene Sterben und über das Maß an Leiden und Beeinträchtigung, das Menschen bereit sind zu akzeptieren, kennzeichnet die gegenwärtige Debatte um die Sterbehilfe. So nahm Udo Reiter, 20 Jahre Intendant des Mitteldeutschen Rundfunks, den Suizid von Wolfgang Herrndorf zum Anlass, am 21. Dezember 2013 in der Süddeutschen Zeitung für den selbstbestimmten Tod zu plädieren: „Ich möchte nicht als Pflegefall enden, der von anderen gewaschen, frisiert und abgeputzt wird. … Ich möchte nicht vertrotteln und als freundlicher oder bösartiger Idiot vor mich hindämmern. Und ich möchte ganz allein entscheiden, wann es so weit ist und ich nicht mehr will …"
Reiter forderte zudem, dass diejenigen, die sich für ihren Tod entscheiden, sich nicht mehr vor den Zug werfen müssen, sondern Anspruch auf ärztliche Hilfe haben, sei es in Form der Beihilfe zum Suizid oder durch aktive Sterbehilfe, die schmerzlose und kunstgerechte Tötung durch den Arzt. Während die aktive Sterbehilfe in Deutschland strafrechtlich verboten ist, wird die Beihilfe zum Suizid, zum Beispiel die Beschaffung der tödlichen Dosis eines Medikamentes, dann nicht bestraft, wenn der Betroffene freiverantwortlich und selbstbestimmt seinen Tod herbeiführt. Allerdings hält die Bundesärztekammer die ärztliche Beihilfe zum Suizid nach dem Standesrecht für unzulässig.
Angst vor dem Leben in Abhängigkeit
Diese Rechtslage nutzen der ehemalige Hamburger Justizsenator Roger Kusch und der Neurologe PD Dr. Johann Spittler, um mit dem Verein SterbehilfeDeutschland e.V. auch in Deutschland Suizidhilfe anzubieten. Dabei stellt Spittler die scheinbare Freiverantwortlichkeit des Selbsttötungswunsches in einem Gutachten fest, während „ehrenamtliche" Sterbehelfer des Vereins die Selbsttötung unterstützen und begleiten. Bei über 50 Prozent der 27 Suizidbegleitungen des Jahres 2012 spielten die Angst vor fortschreitender Pflegebedürftigkeit und die Ablehnung eines Pflegeheimes die entscheidende Rolle für den Suizidwunsch. So ist die Entscheidung über den richtigen Zeitpunkt des eigenen Todes oft verbunden mit dem Wunsch, sich selbst, den Angehörigen und der Gesellschaft im Falle der Pflegebedürftigkeit nicht mehr zur Last zu fallen. Nicht alle Menschen können sich eine liebevolle Privatpflegerin leisten, wie sie der bekannte Tübinger Rhetorikprofessor Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Walter Jens als Demenzkranker in Anspruch nehmen durfte. Angesichts von Pflegenotstand, Vernachlässigung und Vereinsamung älterer Menschen erscheint die Perspektive, den Rest des Lebens in einem Pflegeheim verleben zu müssen, nicht der Vorstellung nach einem Altern in Würde zu entsprechen. Entscheidend für den Wunsch nach einem selbstgewählten Tod bei Alter, schwerer Krankheit oder Behinderung ist nicht nur das durch die Erkrankung hervorgerufene körperliche oder seelische Leiden, sondern auch die Frage nach dem Sinn, den ein Leben in Abhängigkeit und Hilfsbedürftigkeit noch haben kann.
Dabei ist die Debatte um die Zulässigkeit aktiver Sterbehilfe keineswegs neu. Sterbebegleitung und die Linderung von Beschwerden gehörten schon immer zu den ärztlichen Aufgaben. So lässt sich der Begriff einer palliativen Medizin bis ins 14. Jahrhundert zurückverfolgen. Der berühmte französische Arzt Guy de Chauliac sprach im einführenden Kapitel seines chirurgischen Lehrbuches um 1363 von einer „cura palliativa", wenn die Erkrankung unheilbar sei. Der englische Staatsmann und Philosoph Francis Bacon verband mit dem Begriff der Euthanasie, des guten und leichten Todes, eine spezifisch ärztliche Aufgabe: Die „euthanasia exterior" solle dem Sterbenden einen möglichst leichten Übergang vom diesseitigen in das jenseitige Leben ermöglichen.
Die explizite Forderung nach aktiver Sterbehilfe durch den Arzt findet sich in Deutschland jedoch erst Ende des 19. Jahrhunderts. Der junge Philosophiestudent Adolf Jost forderte 1895 ein „Recht auf den Tod" und begründete die Freigabe der Tötung auf ausdrückliches Verlangen des unheilbar Kranken damit, dass der Mensch Souverän seines Lebens sei und damit auch jederzeit über seinen Tod verfügen könne. Diesem „Recht auf den Tod" des unheilbar Kranken entspricht auf der Seite der Gesellschaft das moralische Motiv des Mitleids. Dieses Mitleid erstreckt sich jedoch nicht nur auf die Menschen, die den Wunsch nach dem erlösenden Tod zum Ausdruck bringen, sondern auch auf diejenigen, die diesen Wunsch tatsächlich oder scheinbar gar nicht mehr äußern können: „Wenn wir einen unheilbar Kranken auf seinem Lager unter unsäglichen Schmerzen sich winden sehen, mit der trostlosen Aussicht auf vielleicht noch monatelanges Siechthum, ohne Hoffnung auf Genesung, wenn wir durch die Räume eines Irrenhauses gehen, und es erfüllt uns der Anblick des Tobsüchtigen oder des Paralytikers mit all dem Mitleid, dessen der Mensch fähig ist, dann muß doch trotz allen eingesogenen Vorurtheilen der Gedanke in uns rege werden: ‚haben diese Menschen nicht ein Recht auf den Tod, hat nicht die menschliche Gesellschaft die Pflicht, ihnen diesen Tod möglichst schmerzlos zu geben?‘" Schließlich solle, so Jost, das „Recht auf den Tod" den Einzelnen und die Gesellschaft von denjenigen Leben entlasten, die weder für sich selbst, noch für die Angehörigen einen Nutzen haben.
Debatten um Sterbehilfe
Eben dieses Motiv der Nutzlosigkeit des unheilbar Kranken macht auch der lungenkranke Roland Gerkan in seinem 1913 veröffentlichten Gesetzesentwurf zur Sterbehilfe – „Wer unheilbar krank ist, hat das Recht auf Sterbehilfe (Euthanasie)." – stark: „… nebenan in der Apotheke ist für wenige Pfennige das Mittel zu haben, das mir Ruhe und Erlösung schaffen könnte. ... Zu all dem gesellt sich noch das peinigende Bewußtsein, daß ich meinen Angehörigen schwer zur Last falle. Wenn auch die Opfer an Zeit, Arbeitskraft und Geld mir gern und mit liebevoller Hingebung gebracht worden [sic!] – ein schädlicher Schmarotzer bleibe ich darum doch."
Nach dem Ersten Weltkrieg radikalisierte sich die Debatte um die Euthanasie. 1920 forderten der einflussreiche Strafrechtler Prof. Dr. Karl Binding und der Psychiater Prof. Dr. Alfred Hoche die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens". Sie fragten: „Gibt es Menschenleben, die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes eingebüßt haben, daß ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren hat?" Unheilbar Kranke, die dies wünschten, Bewusstlose, die zu einem namenlosen Elend erwachen würden, und die „geistig toten" „Ballastexistenzen" in den Heil- und Pflegeanstalten sollten von ihrem Leiden durch den Tod erlöst werden. Letztere hätten weder den Willen zu leben noch zu sterben, und so sei ihre Tötung kein Unrecht.
Krankenmorde im Nationalsozialismus
Das Deutungsschema des „lebensunwerten Lebens" wurde zum Referenzpunkt der Debatte um die Sterbehilfe bis in die 1960er-Jahre hinein. Es diente auch der ideologischen und juristischen Rechtfertigung der Patientenmorde im Nationalsozialismus. Der unheilvolle Begriff des „lebensunwerten Lebens" findet sich Ende der 1930er-Jahre auch in psychiatrischen Krankengeschichten. So schrieb der Wieslocher Anstaltsarzt Dr. Gregor Overhamm 1938 über seine Patientin Adelheid B.: „Weiterhin entsetzlich schwierig u. störend. Lebensunwertes Leben!"
In den Jahren 1939 bis 1945 wurden im deutschen Herrschaftsgebiet etwa 300.000 psychisch kranke und geistig behinderte Menschen Opfer des nationalsozialistischen „Euthanasie"-Programms, unter ihnen auch Adelheid B. Sie wurden in den Gasmordanstalten der „Aktion T4" ermordet. Ärzte und Pfleger töteten ihre Patientin darüber hinaus durch Hunger und Medikamente. Die beteiligten Ärzte begründeten ihr Handeln mit dem hohen sittlichen Anspruch der Euthanasie: Der Tod sollte für die Betroffenen eine „Erlösung von ihrem Leiden" sein. Hitlers Begleitarzt und „Euthanasie"-Beauftragter Prof. Dr. Karl Brandt brachte dies im Nürnberger Ärzteprozess auf den Punkt: Bei der Euthanasie sei es nicht um Beseitigung eines Menschen überhaupt gegangen, „[...] sondern es hat sich darum gehandelt, ihn frei zu machen von dem Leiden, das auf ihm lag". Tatsächlich aber war die Frage der produktiven Arbeitsleistung der Patienten in den Heil- und Pflegeanstalten das wichtigste Kriterium für die Entscheidung über Leben und Tod. Und nach dem Stopp der „Aktion T4" im August 1941 berechnete ein Statistiker für die mit den Krankentötungen beauftragte Kanzlei des Führers die durch die „Desinfektion" von 70.273 Menschen eingesparten Pflegekosten auf 885.439.800 Reichsmark.
Sicherlich haben die historische Hypothek der Krankenmorde im Nationalsozialismus und die lange verzögerte Aufarbeitung dieser Verbrechen in Psychiatrie, Medizin und Gesellschaft dazu beigetragen, dass in Deutschland zurückhaltender über aktive Sterbehilfe diskutiert wird als in anderen Ländern. In jedem Falle hat die historische Debatte um die Euthanasie in Deutschland – neben den Bedingungen des Vernichtungskrieges und der NS-Diktatur – zur Realisierung der Krankenmorde im Nationalsozialismus beigetragen. Die historische Debatte um die Euthanasie ging zwar von der Selbstbestimmung des Einzelnen über seinen Tod aus, erweiterte das „Recht auf den Tod" konsequenterweise auch auf denjenigen Menschen, die dieses Verlangen anscheinend gar nicht mehr äußern können.
Aber auch die gegenwärtige Debatte um die Euthanasie, die sehr viel stärker die Selbstbestimmung der Betroffenen betont, steht in der Gefahr der Ausweitung ursprünglich eng gefasster Grenzen. So zeigt sich zum Beispiel in den Niederlanden, dem ersten Land weltweit mit einem Sterbehilfegesetz, eine Tendenz zur Ausweitung der Indikationen aktiver Sterbehilfe auf schwerbehinderte Neugeborene, auf chronisch psychisch kranke Menschen, auf Menschen mit Demenz und auf Menschen ohne schwere Erkrankungen, die gleichwohl „lebensmüde" sind.
Tötung ohne Mitsprache
Auch gibt es in den Niederlanden weiterhin schwer kranke und meist einwilligungsunfähige Patienten, die aus Sicht der Ärzte schwer leiden und ohne ausdrückliches Verlangen getötet werden. Zudem steht die Propagierung aktiver Sterbehilfe oder des ärztlich assistierten Suizids in der Gefahr, Konstruktionen „lebensunwerten Lebens" zu transportieren. Wenn es bei unerträglichen Leidenszuständen oder drohender Pflegebedürftigkeit möglich sein soll, seinem Leben mithilfe von Ärzten ein Ende zu setzen, geraten alte, schwer kranke und pflegebedürftige Menschen unter Druck, die Option der medizinischen Lebensbeendigung in Erwägung zu ziehen. Zusammen mit dem Gefühl, anderen nur noch eine Last zu sein, könnten sie denken, dass sie sich für ihr Weiterleben rechtfertigen müssen. Sicherlich sollen Todeswünsche von schwer kranken Menschen nicht tabuisiert, sondern ernst genommen werden. Die Antwort sollte jedoch nicht in einer vorschnellen Realisierung des Todes, sondern in einem behutsamen Hinterfragen der zugrunde liegenden Motive, einem Aufzeigen palliativer Behandlungsmöglichkeiten der Beschwerden und dem Angebot der solidarischen Überwindung von Einsamkeit und Sinnverlust bestehen.