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Teil 1

„Warum erst 2017?"


Andreas Westerfellhaus, Vorsitzender des Deutschen Pflegerates, exklusiv im großen Sommerinterview von Station24 über die Pflegereform der Bundesregierung.

Herr Westerfellhaus, die Große Koalition hat die erste Stufe der Pflegereform ins parlamentarische Verfahren gebracht, die zweite Stufe wird vorbereitet. Eine Regierung handelt, statt nur zu reden. Sie haben jetzt die Möglichkeit, Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe zu danken und zu loben.
Nun ja, es gibt in der Tat Anlass zu Optimismus. Der Bundesgesundheitsminister hat ganz offensichtlich erkannt, dass es dringend nötig ist, den Pflegebedürftigkeitsbegriff neu zu definieren. Die sogenannte Erprobungsphase mit einer begrenzten Anzahl von Patienten hat begonnen. Man kann dem Minister darüber hinaus dafür loben, dass er ein konkretes Datum genannt hat, zu dem die Reform abgeschlossen sein wird und der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff gelten soll, den 1. Januar 2017. Allerdings endet hier das Lob. Denn die Frage lautet doch: Warum erst 2017? In den vergangenen beiden Legislaturperioden haben namhafte Experten konkrete Vorschläge erarbeitet, die sofort hätten umgesetzt werden können.

Warum glauben Sie, zaudert der Minister?
Die Politik sollte sich von der Vorstellung verabschieden, dass nach der Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs die Welt perfekt ist. Das wird sie nicht sein. Jetzt versucht die Regierung, eine Reform zu machen, die anschließend für 30 Jahre hält und bei der nicht nachgebessert werden muss. Doch auch nach der Reform wird in den kommenden Legislaturperioden weiter eine Debatte über die Pflegepolitik nötig sein. Die jetzige Pflegereform ist der Einstieg in einen Prozess.

Vor einem Jahr haben Sie uns im Sommerinterview 2013 gesagt, dass nach den Wahlen die Pflege meist in Vergessenheit geraten ist. Sehen Sie das auch dieses Mal so?
Sehr zu meiner Freude ist das dieses Mal anders. Dazu beigetragen hat, dass die Bürger das Thema an die Politik herangetragen haben. Die Politik hat erkannt, dass sie sich dem Thema Pflege dringend stellen muss. Ich erwarte allerdings jetzt nach einem Jahr Regierungstätigkeit auch konkrete Maßnahmen.

Die Bundesregierung hat jetzt zunächst die erste Stufe ins parlamentarische Verfahren gebracht, die zum 1. Januar 2015 gelten soll. Dazu gehört ein Vorsorgefonds in der Sozialen Pflegeversicherung (SPV), der ab dem kommenden Jahr aus einer Beitragssatzerhöhung um 0,1 Prozentpunkte gespeist werden soll, um die SPV angesichts des demografischen Wandels künftig zu entlasten. Wie beurteilen Sie das?
Zunächst muss sichergestellt sein, dass das Geld wirklich zweckgebunden vorhanden ist, wenn die Bürger es benötigen. Dies zu beurteilen, ist Sache von Ökonomen und Finanzmathematikern. Klar ist aber, dass das Einsammeln von Geld nicht alles ist. Entscheidend ist doch, dass auch die Leistungserbringer vorhanden sind.

Das heißt?
Das heißt, wir müssen vor allem in Personal investieren. Es wäre doch schlimm, wenn die Bürger ständig mehr Geld für Gesundheit und Pflege – sei es über die Sozialversicherung oder private Vorsorge – zurücklegen, und dann, wenn sie eine Leistung benötigen, niemand die Leistung erbringen kann, weil es zum Beispiel zu wenig professionelle Pflegefachpersonen gibt.

Für Ihre Kollegen wäre das doch ein Traum, denn bei Personalmangel werden die Gehälter steigen.
Eine bessere Vergütung der Pflegefachkräfte ist unbestritten nötig, dafür kämpfe ich auch. Richtig ist auch, dass ein knappes Gut in der Regel teurer wird. Aber ich trete nicht nur für eine bessere Vergütung der Pflegefachkräfte ein, sondern auch für eine gute Pflege in Deutschland. Schließlich bin ich selbst ein potenzieller Leistungsempfänger. Deshalb fordere ich mehr Anstrengungen bei der Ausbildung von Pflegekräften. Das gilt übrigens nicht nur in der Altenpflege, sondern auch in der Krankenpflege.

Wie können mehr junge Menschen für die Pflege gewonnen werden?
Die Stichworte sind bekannt: Höhere Wertschätzung, mehr Entscheidungshoheit im eigenen Leistungsbereich, gute Tariflöhne und Möglichkeiten zur beruflichen Weiterentwicklung. Zeitverträge und Zwang zur Teilzeit werden dagegen nicht dazu führen, dass mehr junge Menschen einen Pflegeberuf ergreifen.

Zur ersten Stufe der Pflegereform gehören auch Maßnahmen für zusätzliche Betreuungsmaßnahmen, etwa für „niedrigschwellige Entlastungsleistungen". Was halten Sie davon, nicht qualifizierte Kräfte auf diesem Weg in der Pflege einzusetzen?
Die Beschreibung, was da konkret passieren soll, ist bisher sehr diffus. Die Realität heute ist, dass sich Menschen Hilfe holen für tägliche hauswirtschaftliche Tätigkeiten vom Waschen der Wäsche bis zur Zubereitung des Essens. Es ist sicher richtig zu überlegen, ob es hierbei eine Unterstützung durch die Pflegeversicherung gibt. Aber ich habe dabei auch Bedenken. Es werden Strukturen geschaffen, die nicht transparent sind. Es besteht die große Gefahr der Vermischung von Leistungen, wenn eine ungeschulte Haushaltshilfe anfängt Tätigkeiten auszuüben, von denen sie annimmt, dass sie keine weitere Qualifikation erfordern. Es muss klar definiert werden, was diese Erbringer von Entlastungsleistungen tun dürfen, und was nicht. Wenn das geschähe, hätte ich keine Bedenken. Leider haben wir in der Vergangenheit mit solchen Maßnahmen eher negative Erfahrungen gemacht.

An was denken Sie konkret?
Ein typisches Beispiel ist die Nahrungsaufnahme. Hier greift immer noch zu oft das Motto, „füttern kann doch jeder". Nahrungsaufnahme kann aber eine hochkomplexe Herausforderung sein, zum Beispiel wenn Menschen an den Folgen eines Schlaganfalls leiden. Es geht dabei jedoch oft um die Bewertung der Aufnahme von Kalorien oder Flüssigkeit. Dies kann Folgen nach sich ziehen, etwa Verwirrtheitszustände. Oder denken Sie an die Aspirationsgefahr. Der Deutsche Pflegerat fordert deshalb: klare Abgrenzung zwischen hauswirtschaftlichen Tätigkeiten in der Pflege – waschen, bügeln, putzen, kochen – und professioneller Pflege am Menschen. Wir dürfen diesen Grundsatz nicht mit Verweis auf einen Fachkräftemangel oder begrenzte ökonomische Ressourcen aufgeben.


In der Bevölkerung ist das Bewusstsein kaum vorhanden, dass viel medizinischen Aspekte der Pflege von Pflegefachkräften beurteilt werden können. Die meisten Bürger gehen doch davon aus, dass ein Ernährungsplan ohnehin von einem Arzt erstellt werden muss.
Möglicherweise haben Sie Recht, dass das Bewusstsein in der öffentlichen Debatte über die Qualifikation und das Wissen von Pflegefachpersonen nicht groß ist. Ich bin mir aber sehr sicher, dass das bei denen, die Pflegeleistungen erhalten, völlig anders ist. Die Pflegebedürftigen wissen die Kompetenz meiner Kollegen sehr zu schätzen. Patienten und deren Angehörige erzählen mir oft, dass noch nie eine Person so gut ihre Bedürfnisse wahrnehmen habe können wie eine Pflegefachperson. Meine Kollegen bekommen sehr hohen Sachverstand und Einfühlungsvermögen bescheinigt. Das gilt übrigens auch für ihre Fähigkeit, medizinisch-ärztlichen Fachjargon zu übersetzen. Auch hier trifft meine Argumentation übrigens eins zu eins auf die Krankenhäuser zu: Das, was Krankenpfleger auf Intensivstationen oder in der Onkologie leisten, erkennen die meisten Menschen erst, wenn sie selbst betroffen sind.

Insgesamt will die Politik den Beitragssatz zur Pflegeversicherung um einen halben Prozentpunkt erhöhen, 0,3 Punkte sollen es Anfang 2015 sein, weitere 0,2 Prozentpunkte 2017. Wie zuversichtlich sind Sie, dass dadurch mehr Geld bei Pflegekräften und in der Ausbildung ankommt?
Da bin ich überhaupt nicht zuversichtlich. Ganz einfach deshalb, weil die Pflegeversicherung zum Beispiel die Ausbildung in den Krankenhäusern überhaupt nicht berührt. Wenn wir die Ausbildung reformieren und verbessern wollen, dann ist eine komplett neue Finanzierung nötig. Dann müssen alle Sektoren Beiträge leisten, Kranken- und Pflegeversicherung. Wobei das eigentlich nicht meine Wunschvorstellung ist.

Sondern?
Die Finanzierung der Ausbildung ist nicht Aufgabe der Kostenträger. Die Kraftfahrtversicherung finanziert auch nicht die Lehre des KFZ-Mechanikers. Ich plädiere deshalb für eine steuerfinanzierte Ausbildung in den Gesundheitsberufen. Allerdings weiß ich auch, dass das derzeit kein politisch realistischer Weg ist.

Bleiben wir noch kurz bei der Altenpflege: Das Gros der ersten Stufe der Pflegereform richtet sich auf die ambulante Pflege. So sollen zum Beispiel das Pflegegeld und die Pflegesachleistungen in der häuslichen Pflege zwischen 2,5 und vier Prozent steigen. Umbauten für Wohngruppen sollen mit bis zu 16.000 Euro gefördert werden. Ist es sinnvoll, mehr Geld per Gießkanne in die ambulante Pflege zu pumpen und den Grundsatz „ambulant vor stationär" zum Programm zu machen?
Der Grundsatz ambulant vor stationär hat nichts an seiner Gültigkeit verloren. Fragen Sie doch einfach die Patienten, wie sie gerne versorgt werden wollen. Jeder von uns will doch so lange wie möglich in seinem gewohnten Wohnumfeld bleiben. Dafür sind aber die richtigen Strukturen nötig. Ich bezweifle, dass wir hier schon so weit sind, dass der Slogan ambulant vor stationär mehr ist als ein Lippenbekenntnis der Politik. Das beginnt, wenn ein Patient aus dem Krankenhaus entlassen wird und anschließend einer weiteren Pflege bedarf.

Die Maßnahmen zum Wohnumfeld sind richtig, denn ohne sie wäre womöglich noch mehr Pflegefachpersonal nötig. Vielleicht führt der Umbau einer Wohnung und die barrierefreie Gestaltung dazu, dass ein Patient mit weniger Hilfe in seinem zu Hause weiterleben kann, als nötig wäre, wenn ein solcher Umbau nicht erfolgen würde.

Die Politik bezeichnet die Familie gerne als den größten Pflegedienst in Deutschland. Sehen Sie die Gefahr, dass die Politik mit dem Slogan „ambulant vor stationär" schlicht versucht, die Kosten einer professionellen Pflege zu sparen?
In der Tat gab es in der Vergangenheit des Öfteren Anlass für den Verdacht, dass die Politik angesichts der enormen Herausforderungen dazu neigt, einfach den Angehörigen oder dem Ehrenamt mehr Verantwortung zuzuschieben. Wenn „ambulant vor stationär" eine Flucht ist, dann wäre das ein fataler Weg. In der ambulanten Versorgung ist eine professionelle Pflege mit Fachkräften genauso nötig wie in der stationären. Die ambulante Versorgung ist sehr personalintensiv, vielleicht wird sogar mehr Personal benötigt als in der stationären.

Was halten Sie vom Slogan „Reha vor Pflege"?
Dieser Ansatz ist natürlich völlig richtig. Aber die Rehaeinrichtungen sind da in der selben Situation wie die Krankenhäuser und die Pflegeheime: Sie leiden unter Personalmangel. Und dann bleibt natürlich die Abgrenzung zwischen den Sektoren, denken Sie nur an den Verschiebebahnhof zwischen Pflege-, Kranken- und Rentenversicherung.

Stichwort Bürokratie: Karl-Josef Laumann, der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, fordert die Einrichtungen auf, Dokumentationsanforderungen zu senken? Liegt der Ball aus Ihrer Sicht bei der Politik oder bei den Einrichtungen?
Er liegt jedenfalls aus meiner Sicht nicht zuallererst bei den Einrichtungen. Schauen Sie sich mal die Anzahl der Institutionen an, die eine Einrichtung begutachten und kontrollieren. Das werden immer mehr. Denken Sie nur an den Medizinischen Dienst der Krankenkassen, die Heimaufsicht, den Tüv, die Feuerwehr, den Zoll, die Antifolterbehörde undsoweiter, die sich manchmal mit ihren Anforderungen auch noch gegenseitig widersprechen. Der Wust der Kontrolle nimmt zu. Wir haben eine Kultur des Misstrauens. Es gilt das Motto: Was nicht dokumentiert ist, ist auch nicht gemacht.

 

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