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Maßnahmen gegen den Pflegenotstand

Am Ziel vorbei

Der Gesetzgeber schreibt neue Gesetze, um Pflegestellen zu schaffen und kommt gleichzeitig seinen eigenen gesetzlichen Verpflichtungen der Bereitstellung ausreichender Investitionen nicht nach. So die Meinung unseres Autors. Trotz bisher betriebenen bürokratischen Aufwands kämen die Gelder nicht dort an, wofür sie bereit gestellt worden seien. Eine kritische Betrachtung der aktuellen Situation in der Pflege. 

Seit Anfang der Diskussion über das DRG-System gab es immer wieder große Bestrebungen einer angemessenen Berücksichtigung des Pflegeaufwands und Pflegepersonalbedarfsberechnungen. Beflügelt wurden diese Bemühungen vom Pflegestellenförderprogramm, das Geld für die Schaffung von Arbeitsplätzen in der Pflege verteilen sollte. Der damit verbundene Pflegekomplexmaßnahmen-Score (PKMS) und der Dokumentationsaufwand werden seit Bestehen sehr kontrovers diskutiert. In der Pflegebranche besteht ein breiter Konsens, dass der Aufwand für die Dokumentation reduziert werden muss, um mehr Zeit für die Pflege und Betreuung der Bedürftigen zu gewinnen. Der eigentliche Zweck des Pflegeprozesses und der Pflegedokumentation ist aus dem Fokus geraten. Der PKMS steht für diese Problematik synonym.
Der Aufwand für Dokumentation ist hoch: Untern anderem zeigt ein Projekt des Statistischen Bundesamts einen finanziellen Aufwand für die Pflegedokumentation von jährlich 2,7 Milliarden Euro und für den zeitlichen Aufwand einen Anteil von 13 Prozent an der Gesamtarbeitszeit einer Pflegekraft festgestellt.

Wettrüsten zwischen Prüfern und Geprüften
Von den insgesamt 55 Milliarden Euro, die die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) jedes Jahr an die Kliniken überweist, werden aufgrund der Prüfungen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) etwa 670 Millionen Euro gekürzt. Gleichzeitig sind die Bürokratielasten durch die Kassen- und MDK-Prüfungen extrem hoch. Man hat den Eindruck, nachdem der MDK aufgerüstet und den PKMS auf dem Radar hat, dass alle PKMS-Fälle routinemäßig geprüft werden. In den Krankenhäusern binden diese Prüfungen die ohnehin schon sehr knappen pflegerischen Personalressourcen. Nach Aussage der Deutschen Krankenhausgesellschaft, bindet die Prüfflut etwa 2.000 Klinikangestellte pro Jahr. Wenn man die MDK- und Kassenverwaltungskosten ursachengerecht zuordnen würde, dann kämen laut Deutscher Krankenhausgesellschaft (DKG) etwa 9,5 Milliarden Euro zusammen. Um den „Machtkampf" mit dem MDK erfolgreich zu bestehen, haben die Kliniken ebenso personell verstärkt.

Die 90. Arbeits- und Sozialministerkonferenz hat festgestellt, dass in der Pflege zurzeit derart dokumentiert wird, dass für alle denkbaren Situationen vorgesorgt ist, jedoch werden aus dieser Erkenntnis die falschen Schlussfolgerungen gezogen. Wenn bei den Pflegenden der Eindruck herrscht, dass der MDK die Deutungshoheit über Art und Umfang der Pflegedokumentation übernommen hat, ist dieser Eindruck haftungs- und sozialrechtliche Realität, an der sich durch weitere Dokumentationsformulare und -modelle nichts ändern wird.

Aus dem damit verbundenen Regessmanagement ist inzwischen eine florierende Industrie entstanden. Im Kern jeder Prüfung geht es darum, der Pflege fehlende Dokumentationsbestandteile nachzuweisen. Entsprechende Computeralgorithmen helfen dabei, entsprechende Plausibilitätslücken zu identifizieren. Es gilt das Prinzip: Nichtdokumentation einer aufzeichnungspflichtigen Maßnahme lässt Unterbleiben vermuten, wobei unklar bleibt, was aufzeichnungspflichtigen Maßnahmen sind.

Es entsteht eine dokumentarisches Wettrüsten zwischen Prüfern und Geprüften. Um den „Machtkampf" mit dem MDK erfolgreich zu bestehen, haben die Kliniken ebenso personell verstärkt.

Schieflage zulasten der Krankenhäuser

Damit sich die MDK-Prüfungen nicht zu lange hinziehen und Kliniken ihr Geld schneller bekommen, haben 70 Prozent der Häuser der Umfrage zufolge eigenes Personal für die MDK-Prüfungen abgestellt. Aber auch das Mahnwesen wurde überarbeitet. In 70 Prozent der Kliniken wurde ein standardisiertes Vorgehen bei der Überschreitung der Zahlungsfristen eingerichtet.

Eine Studie der BDO-Wirtschaftsprüfungsgesellschaft im Auftrag der DKG zeige, dass der überwiegende Teil der MDK-Prüfungen sich gar nicht auf die sachlich-fachliche Abrechnungsprüfung beziehe, sondern auf die nachträgliche Infragestellung der von den Kliniken in der akuten Phase der Patientenversorgung erbrachten medizinischen Leistungen.

Dabei verursacht der MDK einen immensen Aufwand auf Seiten der Krankenhäuser. Die Rolle des MDK bei der Prüfung von Krankenhausrechnungen kann nicht als die eines neutralen Gutachters bezeichnet werden. Der MDK wird von den Kostenträgern finanziert. Dementsprechend kann der MDK als ein Instrument zur Durchsetzung der Interessen der GKV angesehen werden. Hier besteht eine systembedingte Schieflage zulasten der Krankenhäuser.

Um dieser Asymmetrie zu begegnen, waren die Krankenhäuser in den vergangenen Jahren gezwungen, ein Gegengewicht zum MDK und dessen Prüfvorgehensweise aufzubauen. So sind seit der Einführung des DRG-Systems neue Berufsbilder entstanden (Medizin-Controller, Kodierfachkräfte, Casemanager), die in ihrer quantitativen Ausgestaltung laut der BDO-Umfrage hochgerechnet auf alle Krankenhäuser rund 13.700 Vollkräfte umfassen. Hierdurch entstehen jährlich rund 700 Millionen Euro Kosten, was statistisch den Aufwendungen für die Behandlung von rund 190.000 stationären Patienten entspricht oder rund 14.000 Pflegestellen.

Kennzeichnend für die aktuelle Situation ist, dass, wenn die vergangenen Maßnahmen wie Gesetzte, Verordnungen, neue Formulare zur Nachweispflicht und Prüfverfahren sich als schwach erwiesen haben, durch ein Mehr derselben Maßnahmen schließlich der Erfolg sichergestellt werden soll. Haben die gesetzlichen Regelungen und zusätzliche Formulare nicht gegriffen, dann müssen eben noch mehr gesetzliche Regelungen und Formulare her (inklusive Schulungen, Seminare, IT-Programme). Frei nach dem Motto von Albert Einstein: „Wir versuchen die Probleme mit der gleichen Denkweise zu lösen, die sie verursacht haben."

Es wird zwanghaft versucht, den politisch verordneten Markt im Gesundheitswesen mit bürokratischen Instrumenten in den Griff zu bekommen. Eine bürokratisch überzogene Handlungsorientierung, welche die Vorschrift über die Pflege von Menschen stellt und Patienten weitgehend als Objekt behandelt, wird aber nicht funktionieren.
Das formalistische und bürokratische Wettrüsten zwischen Gesetzgeber, Kostenträgern, MDK und Leistungserbringern geht weiter. Bürokraten produzieren Bürokratie und damit mehr Dokumente.

Politik verkennt die Situation der Pflege
Auch wenn die Berücksichtigung der hochaufwendigen Pflege im DRG-System mit dem PKMS dazu geführt hat, dass diese Leistungen besser vergütet werden, so wurde nur etwa die Hälfte der Mittel des Pflegesonderprogramms darüber gezielt verteilt. Eine Garantie, dass ausreichend Pflegepersonal beschäftigt wird, ist damit allerdings nicht gegeben.

In den Jahren 2016 bis 2018 soll ein Pflegesonderprogramm zur Zusatzfinanzierung der „Pflege am Bett" aufgelegt werden. Eine Expertenkommission erarbeitet Vorschläge für die Folgeregelung. Dabei ist das beabsichtigte Pflegestellenförderprogramm das nunmehr dritte Sonderprogramm im nicht-ärztlichen Bereich. Jedoch waren die beiden Programme vorher keine Garantie, dass ausreichend Pflegepersonal beschäftigt wird. Sogar die Politik muss implizit zugeben, dass ihre Programme nicht griffen. Nicht umsonst ist die politische Kernaussage des geplanten Pflegesonderprogramms, die Zusatzfinanzierung der „Pflege am Bett" aufzuerlegen. Also, sind die Mittel zuvor nicht bei der Pflege am Bett angekommen. Die Politik muss mit ihrer Forderung „Pflege am Bett" zugeben, dass die Gesetzte ins Leere liefen, obwohl Krankenhäuser verpflichtet waren und sind, den Krankenkassen eine Bestätigung der geschaffenen Stellen durch einen Jahresabschlussprüfer vorzulegen.

Im Übrigen reicht die Gesamtsumme des Sonderförderprogramms für durchschnittlich knapp zwei Planstellen pro Krankenhaus zusätzlich. Die wahre Problematik der Pflege auf Normalstationen wird damit nicht gelöst. Ferner zeigt diese wohlgemeinte Initiative, dass die Politik nicht erkennt, was aktuell in unseren Krankenhäusern mit der Pflege wirklich los ist.

Wenn es Politiker ernst meinen würden, dann bräuchten die Kliniken keinen Eigenfinanzierungsanteil in Höhe von zehn Prozent der Personalkosten zu tragen. Da rund 50 Prozent der deutschen Kliniken im roten Bereich wirtschaften, trägt diese Regelung nicht dazu bei, gewünschte Stellen im Pflegedienst aufzubauen. Vielmehr müssten die Stellen vollwertig refinanziert und die Träger in die Lage versetzt werden, den enormen Kostendruck zu reduzieren.

Krankenhausreform verschärft die Problematik

Im Übrigen war das DRG-System von Anfang an als medizin-ökonomisches Konstrukt gebaut. Bereits damals zeigten Homogenitätsanalysen, dass die Pflegeleistungen stark schwanken, trotz gleicher ärztlicher Diagnosen und Prozeduren. Die DRG waren und sind medizinisch orientiert, die tatsächlichen Pflegekosten und Pflegeleistungen waren und sind nicht abgebildet. Die DRG sind nach dem medizinischen Ressourcenverbrauch homogen, nach dem Krankenpflegeaufwand inhomogen. Um diesen enormen Rückstand aufzuholen, brauch es mehr als das neue Förderprogramm. Ferner ist zu bezweifeln, ob die Integration der Pflege ins DRG-System als Stellenerweiterungsinstrument praktikabel ist. Bereits mit Einführung der DRG wurde von Pflegeexperten die Forderung nach eigenen Nursing Related Groups (NRG) aufgestellt.

Die Abbildung des Pflegeaufwands im DRG-System ist gut gemeint. Damit ist das Problem aber nicht gelöst: Auf der einen Seite werden Mittel für die Schaffung von Pflegestellen in das System gesteckt, die auf der anderen Seite über gesetzlich verordnete Budgetabsenkungen dem System wieder entzogen werden. Mit der kürzlich beschlossenen Krankenhausreform, wird die Finanzierungsproblematik auch noch verschärft und die Absurdität deutlich. Konkret ist vorgesehen, die 2013 zur Unterstützung der Krankenhäuser bei der Personalfinanzierung eingeführten Versorgungszuschläge in 2017 zu streichen. Damit gehen den Krankenhäusern 500 Millionen Euro verloren, das ist der Gegenwert von 10.000 Pflegestellen.

Das gegenwärtige DRG-Finanzierungssystem war und ist auf eine nachhaltige Produktivitätssteigerung ausgerichtet, sodass Arbeitsverdichtungen die logischen Konsequenzen sind. Daher müssen die Kliniken auf Produktivitätseffekte setzen. In den Kliniken gilt mittlerweile wie in allen Wirtschaftsbetrieben: die Produktivität ist der Maßstab oder die Messzahl der betriebswirtschaftlichen Effizienz von Arbeitskräften. Produktivität ist also ein Indikator dafür, wie wirksam und wirtschaftlich „marktfähige" Sachgüter und Dienstleistungen erzeugt werden. Genau diese Zielrichtung wurde mit Einführung der DRG gewollt. Nun sieht der Gesetzgeber vor, bei den Verhandlungen über die jährlichen Vergütungsanpassungen Abzüge für die Produktivitätsentwicklung einzuführen. Bekanntlich steigt die Produktivität, wenn mit vorhandenem oder weniger Personal mehr Patienten behandelt werden. Dies bedeutet, dass alle Kliniken, die noch einen überdurchschnittlichen Personalbestand haben, zum Personalabbau gezwungen werden, weil die Krankenkassen die Kliniken mit niedrigen Personalbesetzungen zum Maßstab für die Produktivitätskürzungen machen werden. Wenn man die Pflege wirklich entlasten wollte, müsste der Quotient aus mengenmäßiger Leistung und mengenmäßigem Arbeitseinsatz wie die „Produktionsmenge" je Pflegekraft (Quotient aus Output und Input) betrachtet und reguliert werden. Steigende Patientenzahlen und Verkürzungen der Verweildauer in Krankenhäusern führen bei gleichzeitigem Pflegepersonalabbau zu einer Arbeitsverdichtung.

Ursprünglichen Zweck aus den Augen verloren
Pflegedokumente und die aufwändige Pflegeprozessplanung werden heute sehr häufig mit Blick auf die MDK-Prüfungen und Kostenträger bearbeitet und nicht mehr als Instrument effektiver und effizienter Pflege gesehen. Auch die Dokumente zum PKMS sind nicht mehr Mittel zum Zweck, sondern der Zweck, um Mittel zu generieren.
Wenn Pflegestellen geschaffen werden sollen, muss der Gesetzgeber Geld zur Verfügung stellen beziehungsweise neu verteilen und seinen gesetzlichen Verpflichtungen nachkommen. Viele Krankenhäuser sind aufgrund der finanziellen Schwierigkeiten zu engen Personalausstattungen gezwungen. Alleine die vorhandenen Budgets bestimmten und werden den künftigen Personalstand bestimmen. Es ist schon lange so, dass danach gefragt wird, was darf eine Leistung kosten und nicht, was kostet eine Leistung.

Literatur über den Verfasser: be.schanz@t-online.de

 

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