Wenn der Ernstfall eintritt, müssen Notfallteams reibungslos zusammen arbeiten. Was bei Piloten längst Standard ist, beginnt sich in der Medizin erst langsam durchzusetzen. Das Kasseler Symposium bot mit seiner diesjährigen Veranstaltung optimale Bedingungen, damit Rettungsteams ihre Abläufe in realistischen Szenarien verbessern lernen konnten.
Ob beim Rettungseinsatz vor Ort, im Schockraum oder auf der Intensivstation: Patienten werden von Teams behandelt. Doch oft hapert es im Teamwork zwischen Ärzten und Pflegenden, dabei kommt es gerade in kritischen Situationen auf reibungslose Zusammenarbeit an. Um das zu trainieren, trafen sich vom 30. Juni bis 2. Juli mehr als 40 Rettungsassistenten, Anästhesisten, Chirurgen und Pfleger auf dem Campus des Klosters Haydau im nordhessischen Morschen. Hier bot das 59. Kasseler Symposium mit dem Schwerpunkt „Der polytraumatisierte Patient mit Becken- und abdominellen Verletzungen" eine geeignete Plattform, um in realistischen Szenarien Kommunikations-Skills und das Agieren im Team zu verbessern.
Herausforderung Zeitdruck und fremdes Team
„Anders als etwa bei Piloten sind Simulationstrainings im Krankenhaus nicht verpflichtend. Dabei können sie im Ernstfall über Leben und Tod entscheiden", weiß Prof. Dr. Alexander Schachtrupp, Leiter Medizin und Wissenschaft bei der B. Braun Melsungen AG. Zwar sei keine Notsituation gleich. Allerdings trainierten die Simulationen, unter Zeitdruck im Team zu arbeiten. „Die Kommunikation untereinander und die zielführende Koordination einzelner Maßnahmen sind wichtige Schlüsselfaktoren. Je öfter man das trainiert, desto besser klappt es im entscheidender Moment", betont Schachtrupp.
Die Defizite im Teamwork haben aber auch noch einen anderen Grund, weiß Prof. Dr. Dr. Bertram Scheller vom Universitätsklinikum Frankfurt, der das Schockraum-Szenario verantwortete. Die Notfallteams seien fast immer spontan zusammengewürfelt, es seien keine festen, eingespielten Gemeinschaften. „Doch wenn es auf jede Sekunde ankommt, dann geht wertvolle Zeit verloren, wenn unterschwellig Rangkämpfe ablaufen oder wenn etwa aus Unsicherheit die Kommunikation untereinander hakt", so Scheller. Die beste Medizin und die besten Leitlinien seien nur halb so wertvoll, wenn Ärzte und Pflegende nicht genau wüssten, wie sie sie im Team umsetzen müssten. In sehr komplexen Situationen könne es hilfreich sein, wenn einer das Sagen habe und klare Anweisungen verteile. Ein anderer Notfall könne wiederum ein striktes Aufteilen der Verantwortung im Team erfordern. „Klare Handlungsabläufe sind in jedem Fall entscheidend und die müssen kommuniziert werden, sodass alle Beteiligten wissen, was zu tun ist." Wichtig sei es dabei, eine gemeinsame Sprache zu haben, betont Scheller. Eine Schlüsselfunktion komme dem Teamleader zu. Er müsse nicht nur im Umgang mit Schwerverletzten erfahren sein, sondern gleichzeitig müsse es ihm auch gelingen, den Gesamtüberblick zu behalten. Behandlungsschritte müsse er schon im Kopf haben, bevor er sie entsprechend priorisieren und anordnen könne. „In unseren Szenarien geht es weniger um medizinische Inhalte als vielmehr um Soft-Skills. Die Kommunikation miteinander und auch der Umgang mit unterschiedlichen Charakteren muss gut funktionieren", sagt der erfahrene Facharzt für Anästhesiologie, Intensiv- und Notfallmedizin. Ziel sei letztlich, dass die Teilnehmer mit einem positiven Gefühl aus den Simulationstrainings kämen und Denkanstöße mit in ihre eigene Einrichtung nähmen. Scheller rät, solche Trainings alle zwei bis drei Jahre zu wiederholen, damit ein kontinuierlicher Lerneffekt möglich sei.
Wie in der Realität oft üblich, trainierten die Teilnehmer des Symposiums in Kleingruppen mit ihnen bis dahin unbekannten Kollegen. Insgesamt drei unterschiedliche Szenarien spielte jede Gruppe durch: In der Präklinik an einem Unfallort, im Schockraum und auf der Intensivstation. Der Patient war immer eine ferngesteuerte High-Tech-Puppe, deren Blutdruck, Herzfrequenz, Atmung oder sonstige Körpersignale die Trainer beeinflussen konnten.
„Alles wirkt absolut echt. Nach wenigen Minuten erscheint die Situation, in der man sich befindet, höchst real. Man steht extrem unter Stress", beschreibt Anästhesist und Notarzt Alexander Gleich aus Ludwigshafen. „Man sammelt unschätzbare Erfahrungen und weiß, dass solche Situationen in der Realität jederzeit eintreten können", ergänzt Rettungsassistentin Svenja Graß, ebenfalls aus Ludwigshafen. Sie und Gleich sind das einzig reale Duo gewesen. Für sie war das gemeinsame Training eine wertvolle Erfahrung, können sie künftig doch noch etwas routinierter zusammenarbeiten. „Einen Schockraum-Patienten müssen wir in unserer Klinik ungefähr nur achtmal im Jahr behandeln, weil es in der Nähe auch ein spezielles Unfallkrankenhaus gibt. Aber gerade weil es so selten vorkommt, ist Training wichtig", so Gleich.
Übung macht den Meister
Ebenfalls seltenere Handlungen im Klinikalltag konnten in einer der insgesamt zehn Skills-Stationen in den Vortragsräumen des Veranstaltungsorts geübt werden. So sei etwa die Versorgung von Beckenfrakturen mit einer Beckenzwinge selbst für erfahrene Mediziner kein Routineeingriff, weiß Dr. Christian Arnscheidt von der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Tübingen. Er verantwortete in diesem Jahr schon zum vierten Mal die Skills-Area. Schwere Beckenverletzungen allein führten immerhin in bis zu 20 Prozent der Fälle zum Tod des Patienten aufgrund des hohen Risikos für schwere Blutungen. Das richtige Management von Beckenverletzungen könne helfen, Leben zu retten. „Leider gibt es keine Vorgaben, wie oft man bestimmte Handgriffe simulieren sollte", so Arnscheidt. Das sei nicht nachvollziehbar. Oft würde aus Kostengründen auf derlei Training verzichtet. Der Imageschaden für das gesamte Haus im Fall eines Fehlers bliebe allerdings oft bei den Berechnungen unberücksichtigt. Dabei sei die Logik recht simpel: „Selbst, wenn man etwas gelernt hat, passieren Fehler. Wenn man aber etwas nicht gelernt hat, passieren noch mehr Fehler und unter Zeitdruck passieren noch einmal mehr Fehler." An den einzelnen Skills-Stationen gehe es nicht unbedingt um komplizierte Abläufe, die einzelnen Handlungsschritte müsse man sich aber immer wieder in das Bewusstsein rufen getreu des Mottos „Übung macht den Meister". „Selbst, wenn man die Beckenzwinge beispielsweise nie einsetzen muss, gibt es doch ein sichereres Gefühl, wenn man weiß, dass man damit im Ernstfall umgehen kann." Neben der Beckenzwinge konnten aber auch die Fertigkeiten in routinierten Untersuchungs- und Therapiemaßnahmen an den Übungsstationen gefestigt und vertieft werden – so beispielsweise das Stillen einer starken Blutung an einem Kuhbein oder das Legen einer BThoraxdrainage an Schweinehälften. Die Simulationsübungen wurden von Theorieblöcken unter anderem zu Bildgebung, Kommunikation und Infektionsschutz flankiert.
Begleitend zu den Simulations- und Skills-Trainings gab es ein wissenschaftliches Fachsymposium. Dort ging es unter anderem darum, schnell zu übersehende Verletzungen zuverlässig aufzuspüren, mit welchen abdominellen Verletzungen der Weg in den OP oder in die Radiologie ratsam ist oder worauf es beim Patient-Blood-Management während der Notfallversorgung ankommt.
Das nächste Kasseler Symposium findet an gleicher Stelle vom 22. bis 24. Juni 2017 statt. Dann mit dem Fokus auf Schädelhirnverletzungen.