Im internationalen Vergleich wird in Deutschland kaum über die Würde von Pflegekräften gesprochen. Renate Adam-Paffrath, Pflegewissenschaftlerin an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar, hat in einer aktuellen Studie untersucht, wie ambulant Pflegende ihre Würde empfinden und welche Faktoren sie beeinflussen.
Frau Adam-Paffrath, Sie haben sich in Ihrer Untersuchung „Würde und Demütigung aus der Perspektive professionell Pflegender" mit der Ethik in der ambulanten Pflege beschäftigt. Warum?
Der ambulante Arbeitsbereich wird in seiner Komplexität oft unterschätzt. Außerdem gibt es in Deutschland bislang nur sehr wenige ethische Untersuchungen zu diesem Thema.
Von welchen Faktoren ist eine würdevolle Pflege vor allem im ambulanten Bereich abhängig?
Das sind einerseits die Pflegenden selbst, die eine Haltung zu ihrer persönlichen Würde haben sollten und andereseits die sozialethischen Rahmenbedingungen des jeweiligen Arbeitssektors. Um würdevoll pflegen zu können, müssen hier die notwendigen Strukturen bereit gestellt werden.
Wie wird Würde in der Pflege sichtbar?
Eine wesentliche Aufgabe des Pflegepersonals besteht darin, in besonders schwierigen Situationen die Belange der Patienten oder Bewohner anwaltschaftlich zu vertreten. Pflegepersonal im ambulanten Pflegebereich muss zudem eine Sensibilität für die unterschiedlichen Kulturen entwickeln und diese achten. Das erfordert ein Höchstmaß an Fallverstehen!
Wie empfinden Pflegekräfte ihre eigene Würde?
Pflegekräfte legen Wert auf Anerkennung und Wertschätzung ihrer Arbeit. Ein gelungenes Care Arrangement ist für die Pflegenden ein wichtiges Ziel. Sie möchten den Arbeitsplatz - das Zuhause der Patienten – so verlassen können, dass der Patient angemessen versorgt ist. Für ihre Würde ist es bedeutsam, dass bei schwierigen häuslichen Rahmenbedingungen Hand in Hand und auf gleicher Augenhöhe gearbeitet wird. Dies gilt für Hausärzte, Angehörige sowie auch Mitarbeiter von Kranken- und Pflegekassen.
Wodurch sehen Pflegende ihre Würde am meisten bedroht?
Ambulant Pflegende sehen sich vor allem seit der Einführung der Pflegeversicherung in ihrer Würde eingeschränkt. Die massive Ökonomisierung des ambulanten Sektors führt zu depersonalisierenden Arbeitsstrukturen, die wesentliche Elemente der pflegerischen Arbeit, wie die Vertrauens- und Beziehungsarbeit missachten. Die Einschränkung der beruflichen Autonomie und die Nichtachtung der fachlichen Expertise führen schließlich zu einem Verlust von Berufsstolz und -identität.
Welchen Beitrag können die Pflegenden selbst leisten, um ihre Würde zu schützen?
Pflegekräfte sollten versuchen, Berufsstolz zu entwickeln und Würdeverletzungen sichtbar zu machen. Die Bereitschaft zu einem lebenslangen Lernen und Kenntnisse darüber, bei welchen Gelegenheiten in der Öffentlichkeit über die Pflegearbeit gesprochen wird, und wer spricht, sind wichtige Bestandteile zur Würdeerhaltung.
Setzt sich die Berufsgruppe selbst ausreichend mit dem Thema Würde auseinander?
In Deutschland wird die Frage nach der Würde von Pflegenden überhaupt noch nicht diskutiert! Für das Personal scheint es schwierig zu sein, sich mit der eigenen Würde und deren Verletzungen auseinanderzusetzen. Sie erkennen zwar entwürdigende Situationen, bringen diese aber nicht mit der eigenen Würde in Verbindung. Das hat auch damit zu tun, dass hierzulande eine adäquate Sprache fehlt, um über die Würde in der Pflege zu sprechen. International sind diese Diskussionen wesentlich weiter vorangeschritten.
Wer trägt darüber hinaus Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Würde des Pflegepersonals?
Die Würde eines Menschen ist zwar ein innewohnender Bestandteil des Menschseins. Allerdings ist sie auch immer abhängig vom Gegenüber. Dies beinhaltet zwei Verpflichtungen: Zum einen muss die Pflegeperson ihre Würde selbst definieren und verteidigen. Das bedeutet für das berufliche Feld, sich aus dem „Grau" heraus zu begeben und die Verantwortung für das eigene Arbeitsfeld offensiver gegenüber der Politik und Entscheidern zu vertreten. Auf der sozialethischen Seite müssen Voraussetzungen geschaffen werden, damit sich Pflegende nicht ständig für ihre Arbeit rechtfertigen müssen und ihre Expertise anerkannt wird.
Was bedeutet für Sie Würde in der ambulanten Pflege?
Pflegende haben sehr spezifische Gründe, warum sie in der ambulanten Pflege arbeiten möchten und nicht in Institutionen. Die Würde dieser Pflegenden koppelt sich eng an die ständig wechselnden Rahmenbedingungen, die sie in den Haushalten vorfinden. Die rasant wachsende Komplexität in diesem Arbeitsbereich wird in der breiten und in der Fachöffentlichkeit kaum wahrgenommen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf!
Welche Rolle spielt Demütigung im Alltag professionell Pflegender?
Demütigung ist ein Ausdruck von herunterdrücken, klein halten und instrumentalisieren. Die Pflegenden erleben dies täglich etwa durch die Splittung von ehemals zusammenhängenden Arbeitsprozessen, die darüber hinaus an unpassende Zeitvorgaben gekoppelt sind. Der ständige Legitimationszwang insbesondere gegenüber Hausärzten, Kranken- und Pflegekassen bedeutet einen ständigen Kampf um Arbeitsinhalte, für die die Pflegekräfte eigentlich ausgebildet worden sind.
Sie gehen in Ihrer Arbeit auch auf das Phänomen der „Schutzlosigkeit" ein. Was bedeutet es genau?
Ambulant Pflegende sehen sich in der Gesamtschau auf das Gesundheitssytem vor allem in der öffentlichen und politischen Wahrnehmung am Ende der Reihe. Der Ort, an dem gepflegt wird, hat andere Regeln als ein Krankenhaus oder Seniorenheim. Die Institution Pflegedienst ist zunächst weit weg vom Ort der Pflege. Das bedeutet, die Pflegenden sind mit Entscheidungen und dem Erleben von Situationen zunächst allein. Dies birgt unterschiedliche Gefahrenpotentiale.
Planen Sie eine Fortsetzung Ihrer Arbeit?
Ja. Denn in der vorliegenden Arbeit konnte nur eine Annäherung an die Würde der Pflegenden erreicht werden. Hier stehen wir am Anfang der Diskussion. Zwar sind einige Aspekte meiner Studie nicht wirklich neu, aber es muss hierzulande eine eigene Sprache entwickelt werden, um über die Würde in der Pflege zu sprechen.
Frau Adam-Paffrath, herzlichen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Johanna Kristen.