Jeder zweite im Norden der Bundesrepublik lebende Pflegebedürftige hat einen zusätzlichen Hilfe- und Pflegebedarf. Das ist ein Ergebnis einer gemeinsamen Studie der Stiftung Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) und des Instituts für Medizin-, Pflegepädagogik und Pflegewissenschaft an der Charité Universitätsmedizin Berlin. Station24 sprach mit dem ZQP-Vorsitzenden Ralf Suhr unter anderem über die Hintergründe dieser Entwicklung und die besondere Rolle von Ehrenamtlern und ambulanten Pflegediensten.
Laut Ihrer aktuellen Studie ist die ambulante Versorgung vor allem im Nordosten mangelhaft. Warum?
Zunächst: Die Ergebnisse unserer Studie sagen nichts über mangelhafte Leistung ambulanter Dienste im Nordosten der Republik, sondern sie verdeutlichen vielmehr einen nicht gedeckten Hilfe- und Unterstützungsbedarf pflegebedürftiger Menschen in dieser Region. Vor allem in drei zentralen Versorgungsbereichen wurde hierbei zusätzlicher Unterstützungsbedarf festgestellt: in der Versorgung Pflegebedürftiger mit kognitiven Einschränkungen, bei Menschen, die stark in ihrer Mobilität beeinträchtigt sind sowie im Bereich der Inkontinenzversorgung. Hier müssen dringend Verbesserungen erreicht werden.
Insgesamt betrachtet konnte mit unserer Studie ein einmalig breiter repräsentativer Datensatz über den Gesundheitszustand pflegebedürftiger Menschen in der ambulanten Versorgung gewonnen werden. Er bildet eine wichtige Grundlage für die Entwicklung weiterführender Maßnahmen.
Die Zahl der alleinlebenden Pflegebedürftigen wächst kontinuierlich, während die der Pflegefachkräfte immer mehr zurückgeht. Inwiefern gewinnen hier ehrenamtliche Strukturen an Bedeutung?
Das Ehrenamt kann und soll die Fachpflege nicht ersetzen. Allerdings ist die häusliche Pflege im Wandel. Dort werden nach wie vor 70 Prozent aller Pflegebedürftigen versorgt. Aufgrund der demografischen Entwicklung, des Wandels der Familie und der zunehmenden beruflichen Mobilität können immer weniger Pflegebedürftige auf die Hilfe von Familienangehörigen zurückgreifen. Diese sind daher außer bei der pflegefachlichen Versorgung immer häufiger auch im Alltag auf Betreuung und Begleitung durch außerfamiliäre Personen angewiesen.
Dabei ist der Bereich der Alltagsbetreuung ein wichtiges Einsatzfeld für ehrenamtlich Engagierte, die damit einen wesentlichen Beitrag zur Lebensqualität und sozialen Teilhabe pflegebedürftiger Menschen leisten. Aktuelle ZQP Bevölkerungsumfragen verweisen auf ungenutzte Potenziale ehrenamtlichen Engagements in diesem Bereich.
Wie und von wem müssten die ehrenamtlichen Helfer stärker unterstützt werden?
Zurzeit werden unterschiedliche Wege und Strategien zur Stärkung des Engagements in der Pflege zivilgesellschaftlich erprobt. Seit einigen Jahren finden Interessierte immer mehr und vielfältige Optionen vor, sich auf diese Weise in das Gemeinwesen einzubringen. In jedem Fall ist eine Stärkung des Engagements in der Pflege mit „Investitionskosten" verbunden und passiert nicht „von selbst". Denn um Freiwillige zu gewinnen und längerfristig zu binden, sind geeignete Rahmenbedingungen in den Kommunen nötig.
Dazu gehören feste Ansprechpartner, eine authentische Wertschätzungskultur sowie Qualifizierungs-, Beratungs- und Vernetzungsangebote. Diese Rahmenbedingungen sind auch wichtig, um etwaige Ängste und Befürchtungen von Engagementwilligen aufzufangen, sich mit Krankheit und Tod zu konfrontieren und dabei womöglich physisch und psychisch zu überfordern. Bereits gut eingeführte Formen des Ehrenamts, wie etwa in der Hospizbewegung, sind hier wegweisend. Im kostenfrei erhältlichen ZQP Themenreport „Ehrenamtliches Engagement im pflegerischen Versorgungsmix" wird die Situation differenziert dargestellt.
Ihrer Erhebung zufolge ist die Einsamkeit von alleinlebenden hilfsbedürftigen Menschen in Großstädten wie Berlin und Hamburg besonders ausgeprägt. Woran liegt das?
Laut Statistischem Bundesamt sind über 38 Prozent der Haushalte in Deutschland Einpersonenhaushalte und werden vor allem in Großstädten immer häufiger. Diese Entwicklung trifft alleinlebende Pflegebedürftige besonders hart. Denn die Zahl alleinlebender Pflegebedürftiger hat sich im letzten Jahrzehnt verdoppelt und wird weiter wachsen. Unsere Studie hat gezeigt: In Berlin leben fast 30 Prozent der zu Pflegenden allein. Der einzige soziale Kontakt besteht hier in den täglichen Routinebesuchen des ambulanten Dienstes. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung ist der Einsatz von ehrenamtlichen Helfern besonders wertvoll.
Was bedeutet diese Entwicklung für die Rolle der ambulanten Versorger?
Pflegedienste werden noch stärker als bisher eine Lotsenfunktion im System übernehmen müssen. Ihre Beratungsaufgabe wird damit immer wichtiger. Jährlich finden beispielsweise mehr als zwei Millionen Beratungsbesuche für Pflegegeldempfänger überwiegend durch ambulante Dienste statt. Allerdings sind die Anforderungen an gute Beratungseinsätze kaum definiert. Hier muss es dringend einheitliche Regelungen geben, um die Qualität in der familialen Pflege sicherzustellen und weiterzuentwickeln. Das ZQP arbeitet hier gemeinsam mit Experten von Seiten der Leistungsträger, der Leistungserbringer und der Pflegeforschung an einem Qualitätsrahmen, den wir 2016 vorlegen werden.
Herr Suhr, herzlichen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Johanna Kristen.