Fast fünf Jahrzehnte bereisten sie gemeinsam die Länder der Erde. Dann kam der Tag, ab dem das Abenteuer langsam zu Ende ging.
Es ist 14.10 Uhr. Wie jeden Tag verlässt Max Wimmer um diese Zeit das Haus. Um 14.18 Uhr passiert er die großzügige Eingangshalle. Es ist still – keine umherschwirrenden Menschen, keine zischenden Wagons, keine rollernden Koffer. Ein süßsaures Gemisch aus Schnellimbiss und Desinfektionsspray zieht durch seine Nase. Der 81-Jährige nimmt lieber die Treppe statt den Aufzug. Sein Ziel: der zweite Stock. Mittlerweile ist es 14.20 Uhr. Er drückt wie immer die Türklinke in einem Zug nach unten und betritt den schlauchförmig, pastellgelb gestrichenen Raum mit einem großen Fenster am Ende.
„Eigentlich ist Besuchszeit erst ab halb drei, aber ich gehe schon immer etwas früher, damit ich länger bleiben kann"
„Da bin ich wieder. Ich habe dir Apfelsaft mitgebracht, den magst du doch so gern", freut sich Wimmer, nimmt sich den schweren, rot gepolsterten Holzstuhl aus der Ecke neben dem Rollator und setzt sich zu seiner Frau Ursula. Vor ihm baut sich ein fahrbares, in der Höhe elektrisch verstellbares Bett auf. Daneben ein Nachttisch mit Lampe. Darauf ein Menüplan, ein schwarzes Telefon, ein kurzgebundenes Sträußchen aus orangenen Wildrosen und ein Erfrischungswasser. Auf dem ausklappbaren Esstischchen warten ein Teller mit einem Stück Biskuitrolle im Marzipanmantel und eine Tasse Kaffee. „Das habe ich für dich aufgehoben", sagt Ursula. „Nein, das sollst du essen", entgegnet ihr Mann und schiebt das Kuchenstück wieder zu seiner Frau.
Fünf Jahre hat Max Wimmer seine Frau Ursula in Unterstützung mit der Diakonie zuhause gepflegt. Seine Frau hat mehrere Stürze mit anschließender Operation hinter sich und ist über die Jahre immer gebrechlicher geworden. Zuletzt konnte sie kaum noch laufen. Jetzt wohnt sie in einem Pflegeheim in Bad Sooden-Allendorf. Ihr Mann geht unterdessen seinen eigenen Weg und kämpft sich ohne sie durch den neuen Alltag.
„Ich habe immer davon geträumt, auf einem Handelsschiff über die Meere zu fahren"
Seit fast 50 Jahren kennen sich der ehemalige Baureferatsbeamte der Stadt München und die gelernte Kinderkrankenschwester. Die Wochenenden verbringt das Ehepaar anfangs abseits der bayerischen Metropole – in einer Bauernhauswohnung in Bichl. „Ein uriges Dorf mit Kolonialwarengeschäft, Kuhglockengeläut und sprießenden, frischen Wiesen", schwärmt Herr Wimmer als er an dieses Fleckchen Heimat im Oberbayerischen zurückdenkt. „Das waren noch Zeiten, als wir auf die Berge gestiegen sind oder in der Türkei, auf Mallorca, in Sizilien und in Montenegro waren." An die Nordsee möchte der Wimmer gern nochmal reisen, weil es dort „wie in einer anderen Welt ist – endlose Sandstrände und Wasser bis zum Horizont." Aber allein will er das nicht mehr.
Auch seiner Frau geht es so. „Ich bin jetzt hierher gereist", sagt sie und zeigt auf ihr festgestelltes Bett, ihr neues Zuhause. Trotzdem schaut sie gern voraus und hat für ihren Mann eine Haushaltshilfe aus ihrem vertrautem Umfeld organsiert. Sie soll sich um ihn kümmern. Das ist ihr wichtig. Sogar das Kochbuch mit bayerischen Spezialitäten hat sie an die helfende Hand weitergegeben. Samstags gab es schließlich immer Weißwürschtel mit süßem Senf, Brezen und Weißbier. „Das haben wir aus Bichl mit nach Bad Sooden- Allendorf gebracht", weiß der 81-Jährige.
In dem nordhessischen etwa 8.000 Seelen zählenden Kurort leben die Beiden jetzt seit zwei Jahrzehnten – und seit kurzem zumindest räumlich voneinander getrennt. „Du sollst noch etwas vom Leben haben, nicht nur Altenheim sehen", hebt Ursula ihre Stimme. „Vielleicht fahre ich mal mit Wilhelm weg", beruhigt Wimmer seine Ursula. Erleben will er eigentlich noch viel, aber allein, das kommt für ihn nicht wirklich in Frage. Um 7.00 Uhr steht er auf. „Um 8.00 Uhr ist dann Lesestunde im Fernsehzimmer", sagt er. „Dann lese ich die Tageszeitung und am Sonntag zusätzlich noch die Frankfurter Allgemeine Zeitung." Das überregionale Blatt hat seine Frau schon vor Jahren abonniert. Wimmer nimmt auf einem sandfarbenen, mit einem weißen Fell ausgelegtem Ledersessel direkt am Fenster Platz. Dort hat seine Ursula immer gesessen, wenn sie gemeinsam fern gesehen haben. In der hölzernen Schrankwand links daneben stehen Politiker neben Literaturkritikern und großen Namen der deutschen Geschichte: Willy Brandt, Angela Merkel, Peter Scholl-Latour, Marcel Reich-Ranicki und König Ludwig II.
„Ich bin schon seit Kindertagen ein richtiger Bücherwurm", sagt Wimmer und holt aufgeregt mit zittrigen Händen „In Rostock" von Walter Kempowski aus dem Regal. Das ist einer seiner Lieblingsautoren. Rechts oben neben dem „Reiseführer DDR", den Gedichten von Joachim Ringelnatz, den großen Kinostars und dem extra Regalteil für bayerische Literatur hängt eine gläserne Vitrine. Sie konserviert die gemeinsamen Erinnerungen des Ehepaars: Alte Fotos, aus Zink gegossene Schnapsgläser, kleine Holzschnitzereien und Postkarten schaffen Nähe zu seiner Frau und verdrängen für Momente das Gefühl des Alleinseins. Und wenn Wimmer sich an die Rad- und Wandertouren mit seiner Frau erinnert, scheint er zumindest gedanklich wieder über die Hochstraßen auf die Gebirgsgipfel zu spazieren.
„Boney M. mit Rivers of Babylon - die heben mein Gemüt"
„Das ist meine Frau als sie jung und schön war", erzählt der fürsorgliche Ehemann und nimmt das in einem Glasrahmen gefasste Foto von der Schlafzimmerwand, vor der auch der von Bayern nach Nordhessen mitgereiste Bauernschrank und die Frisierkommode seiner Frau stehen. Auf dem in die Jahre gekommenen Möbelstück sind auf einem umstickten Zierdeckchen sechs halbvolle Parfümflakons platziert. Schräg gegenüber hat Herr Wimmer zwei Betten bezogen. Die rechte Betthälfte ist mit einem braun-weiß geschecktem Überwurf abgedeckt. Darüber hängen zwei Landschaftsaquarelle. Die Künstlerin ist eine Freundin seiner Frau. „Das ist das Rote Moor und das die Wasserkuppe in der Rhön, wo meine Frau aufgewachsen ist", erzählt Wimmer. Er kennt die Namen aller Berge, die sich an den Wänden der Dreizimmerwohnung verewigt haben. Wohn-, Schlaf- und Fernsehzimmer bewahren die vergangene Zeit wie einen Schatz. Seine Frau ist also nicht weg, sondern immer noch da. Trotzdem gibt es manchmal einsame Tage. Dann legt Wimmer „Rivers of Babylon" von Boney M. auf. „Die heben mein Gemüt", sagt er. „Dann denke ich immer daran, wie das die Hotelband am Strand von Sizilien gespielt hat."
„Ich bin jetzt da, Zimmer 229"
Zu diesen trüben Tagen zählt auch der 31. Januar 2014. „Ich kann nicht mehr heim", sagte die ehemalige Freizeitsportlerin an diesem Tag zu ihrem Mann. Zuvor war sie erneut in der Wohnung gestürzt und lag im Krankenhaus. Sie, die in jüngeren Jahren mehrere Dreitausender bezwungen hatte und der keine Skipiste zu steil war, konnte sich selbst mit dem Rollator kaum noch bewegen. Jeder Schritt schmerzte, vor allem in den Knien und der Hüfte. Das reiselustige Paar scheint am Ende seines gemeinsamen Abenteuers angekommen: Ursula ist schwer pflegebedürftig, bekommt derzeit Pflegestufe II. „Als meine Frau mich am letzten Tag im Januar anrief, packte ich in unseren Koffer nicht Sonnenhut, Schutzcreme und schicke Sandalen, sondern praktische Leibwäsche, Nachthemen und bequeme T-Shirts für das Pflegeheim", erinnert sich Wimmer. „Die schöne Zeit ist vorbei. Daran müssen wir uns gewöhnen." Aber unglücklich sind sie nicht. Denn wenn sie gemeinsam am Pflegebett an alte Zeiten zurückdenken, reisen sie, wenn auch nur in Gedanken, Tag für Tag zu den schönsten Regionen der Welt.