Der Einsatz von Ortungssystemen ruft unter anderem aufgrund tiefschneidender Eingriffe in die Grundrechte Betroffener bedeutende pflegefachliche, ethische, juristische und technische Fragestellungen hervor. Diese Spannungsfelder wurden innerhalb der Evangelischen Heimstiftung im Rahmen einer interdisziplinären Projektarbeit identifiziert. Im Interview gewährt uns Pflegewissenschaftlerin Birte Weniger einen Einblick in die Projektarbeit und deren Ergebnisse.
Welchen Anlass gab es in der Evangelischen Heimstiftung, sich mit dem Thema Ortungssysteme zu beschäftigen, und welches Ziel hatte die Projektarbeit? Anlass zur Projektarbeit „Ortungssysteme in der stationären Altenpflege" in der Evangelischen Heimstiftung entwickelte sich aus der Pflegepraxis. Es tauchten immer wieder Fragestellungen auf, inwiefern der in den Medien inzwischen viel diskutierte Einsatz von Ortungssystemen zur geschützten Vergrößerung des Bewegungsradius von Menschen mit Demenz und Wanderbedürfnis beiträgt. Dabei zielte die Projektarbeit auf eine trägerweite Lösung hinsichtlich des Umgangs, der Anschaffung und Installation technischer Ortungssysteme in stationären Altenpflegeeinrichtungen ab, um einen grundsätzlichen Handlungs-, Begründungs- und Orientierungsrahmen für die stationären Einrichtungen der Heimstiftung zu schaffen. Innerhalb einer Entscheidungshilfe sollte das Thema Ortungssysteme in stationären Altenpflegeeinrichtungen handlungsleitend für die Einrichtungen aufgearbeitet, relevante Fragestellungen und auftauchende Spannungsfelder identifiziert werden.
Wer war an der Projektarbeit beteiligt und was war deren Inhalt?
Aufgrund der Tragweite der Entscheidung bezüglich eines Ortungssystemeinsatzes wurde eine Projektgruppe mit internen, interdisziplinären Team von Experten aus Pflegewissenschaft, Pflegepraxis, Ethik, Recht und mit technischen Kompetenzen einberufen. Es wurde eine einheitliche Lösungsstrategie entwickelt, die den Entscheidungsprozess rund um das Thema Ortungssysteme beleuchtet. Allerdings hängt der Einsatz eines solchen Systems von vielen verschiedenen Faktoren ab und ist damit immer eine Einzelfallentscheidung, die einrichtungsindividuell zu treffen ist. Internationale Fachdiskussionen und Begriffsdefinitionen wurden erörtert, um anschließend relevante Fragestellungen sowie auftretende Spannungsfelder zu identifizieren und handlungsleitende Strategien für die Einrichtungen zu erarbeiten. Zur Schaffung einer definitorischen einheitlichen Ausgangslage, wurden zunächst Ortungssysteme aufgrund der unterschiedlichen Zielsetzungen in Türalarmsystem, selektive Türsteuerung und GPS-Ortung klassifiziert. Konfligierende Themenbereiche wurden durch die Experten mit ihrem jeweiligen juristischen, technischen, pflegewissenschaftlichen/-praktischen oder ethischen Hintergrund erörtert sowie hinsichtlich eines Ortungssystemeinsatzes abgewogen.
Ergebnis der Projektarbeit ist eine Entscheidungshilfe, die drei handlungsleitende Instrumente integriert. Das erste Instrument zeigt die relevanten Fragestellungen innerhalb des Anschaffungsprozesses auf. Das zweite Instrument unterstützt durch Zielformulierung des Systems und Formulierung von Anforderungskriterien bei der Auswahl technisch notwendiger Systemfunktionen. In Abhängigkeit der Systemklassifikation und der Region, in der das System eingesetzt wird, muss beim Vormundschaftsgericht vor Ort eine FEM beantragt werden. Das dritte Instrument zeigt der Pflegepraxis Wege zur Auswahl zu detektierender Bewohnerinnen und/oder Bewohner auf. Darin werden diejenigen Grundwerte benannt und diskutiert, die in der konkreten Situation zur Konkurrenz stehen und ein ethisches Dilemma verursachen. Eine Evaluation des Technikeinsatzes beinhaltet zum einen die nach ungefähr vier bis sechs Wochen bewohnerindividuelle Überprüfung der Wirksamkeit der Maßnahme: Welchen Nutzen/Aufwand, aber auch welche Folgen hat die Maßnahme für die Bewohner im Vergleich zu anderen Maßnahmen? Zum anderen beinhaltet die Evaluation die Überprüfung der Wirksamkeit des Systemeinsatzes nach zwei bis drei Jahren.Die Entscheidungshilfe bietet der Pflegepraxis einen grundsätzlichen Orientierungsrahmen und Instrumente, um zu einer guten Entscheidung hinsichtlich des Einsatzes von Ortungssystemen zu kommen.
Welche kritischen Aspekte hinsichtlich des Ortungssystemeinsatzes konnten innerhalb der Projektarbeit identifiziert werden?
Der Einsatz eines Ortungssystems stellt immer einen Eingriff in die Grundrechte der Bewohnerinnen und Bewohner dar, da Pflegende über das Verlassen eines Bewohners der Einrichtung oder des Geländes informiert werden. Die Auswahl zu detektierender Bewohner inkludiert die Berücksichtigung der Lebens- und Wertevorstellungen jedes Einzelnen. Dazu bedarf es den Einbezug der Betroffenen selbst zu einem möglichst einwilligungsfähigen Zeitpunkt und deren Angehörigen. Die eingesetzten Techniksysteme sollten flexibel, modular aufgebaut und individualisierbar sein, damit sich die Technik den Bedarfen der Nutzer anpasst und sich die Betroffenen nicht der Technik anpassen müssen. Die Wanderursache wird durch den Einsatz von Ortungssystemen nicht behoben. Deshalb ist vor Installation die Frage nach den Ursachen des Wanderverhaltens zu stellen, und ob ein Anbringen eines Funkchips/Transponders den Bedürfnissen wandernder Bewohnern tatsächlich entgegenkommt. Menschen mit Wanderverhalten bedürfen einer Umgebung voll Sicherheit, Behaglichkeit und Vertrauen. Möglicherweise weil sie dies nicht vorfinden, machen sie sich auf den Weg und suchen Orte, die ihnen das Gesuchte bieten könnten. Durch (biografische) Angebote zur Beschäftigung, die ihnen aus ihrem bisherigen Leben vertraut sind, und durch Einbindung in Aufgaben des täglichen Lebens, kann das Gefühl der Vertrautheit unterstützt werden. Durch dieses soziale Eingebundensein könnte ein Ortungssystemeinsatz vermieden werden. Ortungssysteme können durch Auflösung beschützender Bereiche inklusionsfördernd wirken. Sie erlauben ein bedürfnisorientiertes, geschütztes Wanderverhalten, welches positiv auf Lebensqualität und Gesundheit durch die Bewegungsförderung wirken. Ortungssysteme bieten Sicherheit für Menschen mit Demenz, indem Selbst- und Fremdgefährdung minimiert werden können, obwohl eine hundertprozentige Funktionstüchtigkeit der Systeme nicht gewährleistet werden kann. Ein weiterer positiver Nebeneffekt ist die psychische Entlastung Pflegender durch den Technikeinsatz.
Die Fragen stellte Marina Deiß
Referentin
Stabsstelle S02 Kommunikation und Marketing
Evangelische Heimstiftung GmbH
Interimsquartier
Neckarstraße 207
70190 Stuttgart