Die Bewohnerschaft eines Altenheims ändert sich kontinuierlich. Für Mitarbeiter in der Betreuung stellt sich die Frage nach passenden Angeboten vor allem für immobile Bewohner wie Wachkoma- oder Demenzpatienten. Wissenschaftlich belegt ist: Musik spricht Menschen in allen Lebenslagen an. Warum also nicht die Musik direkt ans Bewohnerbett bringen? Für diesen Weg hat sich auch das Evangelische Altenzentrum Hückelhoven entschieden.
Alle vier Wochen begleitet Iris Nitsche vom Sozialen Dienst Musiker Viktor Waßenhoven und das schon seit mehr als zehn Jahren. Gemeinsam besuchen sie immobile Bewohner, um ihnen Freude zu bereiten und Momente des Wohlbefindens zu ermöglichen.
Allerdings ist dies oft nicht ganz einfach. Denn: Woran erkennt man, ob das Angebot auch wirklich ankommt? Wie sind Lautäußerungen zu verstehen? Bedeuten sie „Hör auf" oder „Mach weiter" oder „Ich singe mit"? Es gibt auch viele Bewohner, die sich gar nicht äußern können.
Hier braucht es eine positive Grundhaltung, ein geschultes Auge, Erfahrung, Einfühlungsvermögen und Geduld. Deshalb sollte der gesamte Prozess auch von einem erfahrenen Mitarbeiter begleitet werden, der die Reaktionen zu deuten und zu verstehen weiß.
Die Erfahrung hat gezeigt, dass diese Art der Betreuung im Tandem besonders effektiv ist: Der Musiker ist mit seinem Instrument und der Auswahl des Stückes beschäftigt, während die Mitarbeiterin des Sozialen Dienstes beobachtet. Dabei kommt es auf kleinste Regungen an. Bewegt sich ein Fuß rhythmisch unter der Bettdecke, wird diese Reaktion festgehalten und gibt Informationen für zukünftige Besuche im Bewohnerzimmer.
Aller Anfang ist schwer
Nitsche und Waßenhoven tasten sich immer vorsichtig an einen neuen Bewohner heran. Sie gehen gemeinsam an das Krankenbett und nehmen Kontakt zum Patienten auf. Die Begrüßung und Vorstellung erfolgt langsam und in der Regel leise, damit keine Stressreaktion ausgelöst wird.
Sowohl beim Erstkontakt als auch nach Stressreaktionen verändern die Akteure ihren Standort. Sie ziehen sich Richtung Tür zurück, um dem Bewohner ein Gefühl von Sicherheit zu geben. Immer wieder tasten sie sich an die Bedürfnisse des Bewohners heran. Wichtig ist, dass beide Akteure ruhig und gelassen bleiben und gut beobachten. Denn der Patient soll sich an die neue Situation gewöhnen.
Erste Lieder können das vertraute „Guten Abend, gute Nacht" sein. Zudem bieten sich jahreszeitliche Lieder wie zum Beispiel „Im Märzen der Bauer" oder „Kommt ein Vogel geflogen" an. Die „Mundorgel" ist beispielsweise ein kleines Büchlein, das man bei Textunsicherheiten gut in die Tasche stecken kann.
In der Regel sind die Bewohner, die besucht werden, nicht in der Lage, sich Lieder zu wünschen. Anhaltspunkte können aber ihre Angehörigen, die Biografie, Erfahrungen mit dem Bewohner oder der Deutungsversuch von Mimik und Gestik geben.
Es wird zunächst eine Strophe gesungen und die Wirkung des Liedes auf den Bewohner beobachtet. Nicht jeder Besuch ist von Erfolg gekürt. Äußerungen des Unbehagens darf der Akteur nicht auf sich beziehen. Diese sind erst einmal eine Reaktion auf die neue Situation oder aber ein Zeichen, dass dem Patienten diese oder generell Musik nicht gefällt. Das gilt es mit der Zeit herauszufinden.
Rituale helfen bei der Eingewöhnung
Wie sieht ein typischer Ablauf beim Besuch eines Bewohnerzimmers aus? Nitsche und Waßenhoven klopfen an die Tür und stellen sich vor: „Hier ist Iris. Ich habe heute Viktor dabei und wir haben Musik mitgebracht." Während Nitsche Störfaktoren ausschaltet, stellt Waßenhoven sich dem Bewohner vor.
Störfaktoren können Straßengeräusche, das eingeschaltete Radio oder Gespräche, die vom Flur durch die offene Zimmertür dringen, sein. Dennoch ist es manchmal gut, wenn die Zimmertür geöffnet bleibt. So fühlen sich andere Bewohner eingeladen als Gast das Zimmer zu betreten.
„Manchmal ist uns klar, dass es der letzte Besuch ist. Doch auch für die letzten Tage kann es schön sein, Lieder zu hören. Diese müssen auch dann nicht ernst oder traurig sein. Hier ist natürlich allerhöchste Sensibilität gefragt. Es gibt Menschen, die singen am Sterbebett beispielsweise voller Überzeugung: „So ein Tag, so schön wie heute, der dürfte nie vergehn".
Victor Waßenhoven
Ist der Patient allerdings lediglich durch eine konzentrierte Beobachtung zu erreichen, empfiehlt es sich, die Tür zu schließen. Anwesende Angehörige oder Besucher werden in die Situation einbezogen. Beispielsweise hat einmal eine Tochter die Hand ihrer Mutter genommen, als Viktor auf der Gitarre oder dem Akkordeon spielte. Das war sicher eine Bereicherung für ihre Mutter. Auch die Beleuchtung sollte der Situation angepasst werden: Es darf nicht zu hell, aber auch nicht zu dunkel sein.
Der Kontakt bleibt erst einmal verbal. Gab es vorher keine Gespräche mit dem Bewohner, sollte sparsam mit Körperkontakt - wie etwa die Hand zu nehmen und zu streicheln - verzichtet werden. In der Regel dauert ein Besuch 15 Minuten. Zu den 15 Besuchsminuten müssen die Wege von einem ins andere Zimmer gezählt werden Die genaue Zeit hängt von dem Wunsch und der Verfassung des Bewohners ab. Möchte er noch ein Lied hören? Ist er erschöpft? War gerade der Physiotherapeut da? Einige Bewohner äußern ihre Wünsche: „Reicht", „Heute nicht", „Noch eins".
Vor dem letzten Lied kündigt Nitsche das Ende des Besuches an. „Wir singen noch ein Lied, dann gehen wir weiter". Kurze und klare Sätze zeichnen die Kommunikation mit immobilen Bewohnern aus und tragen auch zur Struktur des Besuchs bei.
"Ich war noch niemals in New York"
Als sinnvoll haben sich Musikvorträge am Nachmittag erwiesen. Die Vormittage verlaufen in der Regel unruhig und sind durch Pflegeaktionen und Arztvisiten ausgefüllt. Nach der Mittagspause sind die Patienten wieder ausgeruht und wieder aufnahmebereit - am besten zwischen 15.00 und17.00 Uhr. Wenn Bewohner schlafen, wird der Besuch später am Nachmittag wiederholt. Sieben bis acht Bewohner erreichen die Musizierenden an einem Nachmittag.
Gelegentlich legt Waßenhoven schon auf dem Flur mit einem flotten Schlager los. Dann erklinkt auch schonmal „Ich war noch niemals in New York". Waßenhoven ist begeistert von der Freude, mit der er von vielen bereits erwartet wird: „Ich habe euch schon gehört, sagte Herr K. mit strahlenden Augen. Er mag rheinische Lieder und singt immer mit. Der Funken geht auch auf die beiden Besucher über. Manchmal fließen auch Tränen, wenn sich Herr K. beispielsweise an seine verstorbene Frau erinnert.
Selbst Sonderwünsche sind für Waßenhoven kein Problem. Denn er ist ausgebildeter Musiker. Er braucht keine Noten und spielt nach Gehör.
Konstanz als wichtiges Merkmal
Ob die ausgewählten Musiker ehrenamtlich tätig sind oder für ihre Arbeit bezahlt werden, spielt zunächst keine Rolle. Wichtig ist, dass Musiker und Mitarbeiter konstant die gleichen Personen sind. Denn gerade immobile Bewohner brauchen Orientierung und Gewöhnung.
Reaktionen hervorlocken
Das Wunschkonzert ist eine gute Möglichkeit der Aktivierung für immobile Bewohner und steht im Kontext zur Basalen Stimulation, Snoezelen, Klangschalenarbeit oder anderen Wohlfühlangeboten.
Musik spricht die Menschen an. Wichtig ist dabei die Beziehungsarbeit, die über die Musik und nicht über die körperliche Berührung geht.
Nitsche und Waßenhoven gehen seit Jahren gern über die Wohnbereiche. Greifbar wird die Wirkung der Musik für sie vor allem dann, wenn Bewohner mitsingen und sich bewegen. Und das spornt an!
Fazit
Aus der Betreuungsarbeit des Ev. Altenzentrums ist das musikalische Angebot nicht wegzudenken. Musik verbindet eben, auch über Bewohnerzimmer hinaus und ermöglicht so eine Kommunikation mit der Welt.