Prof. Dr. Haci Halil Uslucan ist Leiter des Zentrums für Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen. Er fordert eine stärkere multikulturelle Ausrichtung in der Pflege – um den Bedürfnissen der steigenden Zahl pflegebedürftiger Migranten gerecht zu werden, aber auch ,um das Potenzial ausländischer Personen für die Fachpflege zu nutzen. Eine entsprechende Studie zeigt, wo die Defizite derzeit am größten sind.
Der Anteil der über 65-jährigen Bevölkerung mit Migrationshintergrund zählt zu der am schnellsten wachsenden Bevölkerungsgruppe in Deutschland. Beinahe unbemerkt von der Öffentlichkeit sind Pflege und Migration zu einem zentralen Thema geworden. Zurzeit nutzen hilfe- und pflegebedürftige Ältere mit Migrationshintergrund deutlich seltener professionelle medizinisch-pflegerische Versorgung als Nicht-Migranten. Künftig werden ihre Familien den steigenden Hilfs- und Pflegebedarf voraussichtlich aber nicht allein decken können. Pflegeorganisationen sind zunehmend gefordert, sich auf ein interkulturelles Klientel einzustellen und entsprechende Pflege- und Informationsangebote anzubieten.
Wissen und Kenntnisse über die verschiedenen Kulturen sollten deshalb bereits in der Ausbildung von Pflegepersonal vermittelt werden. Das fordert Prof. Dr. Haci Halil Uslucan, Professor für moderne Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen und Leiter des dort ansässigen Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung. Damit könne das Vertrauen und auch die Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen durch Migranten erhöht werden. Das könne beispielsweise mit gezielten Fort- und Weiterbildungen zum Thema kultursensible Pflege sowie einer bessere Aufklärung der Anbieter professioneller Pflege zu wichtigen kulturellen und religiösen Unterschieden und damit verbundenen Bedürfnissen erreicht werden. „So können Missverständnisse und Grenzüberschreitungen vermieden sowie die Toleranz und auch Neugier gegenüber kulturellen Unterschieden gestärkt werden", weiß der Integrationsforscher.
Große Defizite in der Vorsorge und RehaGebetsräume und Örtlichkeiten für rituelle Waschungen etablierten sich langsam in Krankenhäusern oder auch Pflegeeinrichtungen. „In der Vorsorge und Reha gibt es jedoch nach wie vor noch große Defizite", so Uslucan. Niedrigschwellige Angebote und die Verbreitung entsprechender mehrsprachiger Informationsbroschüren seien hier ratsam.
In einer zunehmend vielfältigeren Gesellschaft müssten die individuellen Bedürfnisse für eine bedarfsgerechte Versorgung künftig noch stärker berücksichtigt werden. Dabei spielten auch die besonderen Vorstellungen älterer Menschen aus anderen Kulturen eine wichtige Rolle. So sei sicherzustellen, dass auch dem wachsenden Anteil älterer Migranten der Zugang zum deutschen Versorgungssystem erleichtert werde. „Und damit auch die Akzeptanz und das Vertrauen dieser Menschen in unser Gesundheitssystem", verdeutlicht Uslucan.
Vor allem sprachliche Barrieren müssten überwunden werden. Dies könnte beispielsweise auch über eine mehrsprachige Pflegeberatung oder mehrsprachige Hinweise und Schriften in Kliniken oder Pflegeheimen erfolgen.
Ebenso plädiert Uslucan dafür, verstärkt professionell Pflegende mit Migrationshintergrund einzubinden – im Sinne eines Diversity Managements. Denn Studien hätten belegt, dass eine kultursensible Pflege, die Akzeptanz des Pflegebedürftigen, fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen, erhöhe. Zudem gehe das mit einer schnelleren Heilung einher und sei damit letztlich auch wirtschaftlicher. „Von einer kultursensiblen Pflege profitiert also die gesamte Gesellschaft. Dieses Bewusstsein verankert sich langsam. Ein Umdenken findet statt, das Migranten eine gleichberechtigte Teilhabe im Gesundheitssystem ermöglicht", betont der Forscher.
Der Idee, ausschließlich für Migranten vorbehaltene Kliniken zu gründen, wie es immer mal wieder in der Presse kursiert, erteilt Uslucan eine klare Absage. Damit gehe die Gefahr der Ausgrenzung dieser Bevölkerungsgruppe einher. Interessanterweise kämen diese Vorschläge oft von Migranten selbst. „Das ist aber albern, wenn man die Idee bis zu Ende denkt." Schließlich könne man nicht für jede Ethnie eine eigene Einrichtung schaffen. Viel wichtiger sei es deshalb, vorhandene Strukturen kultursensibel auszurichten.
Studie: Wie schätzen türkische Migranten die Kultursensibilität in deutschen Kliniken ein?
In einer Querschnittstudie untersuchte Uslucan mit Kollegen des Universitätsklinikums der Ruhr-Universität Bochum, wie Patienten mit türkischem Migrationshintergrund ihre Behandlung in einem deutschen Krankenhaus bewerten. Dabei ging es um drei kultursensibel Bereiche: Religionsausübung, Ernährung und geschlechterspezifische Behandlung.
50,8 Prozent der stationären Patienten mit türkischen Wurzeln hielten die im Krankenhaus gebotenen Möglichkeiten zu beten für „schlecht" oder „sehr schlecht". Die Ernährung nach islamischen Geboten im Krankenhaus war für 90 Prozent der Befragten „ziemlich" oder „äußerst schwierig". Ein weiterer kultursensibler Aspekt ist die gleichgeschlechtliche Pflege. 79 Prozent der weiblichen Befragten war es „ziemlich" oder „äußerst wichtig", von einer Frau gepflegt zu werden.
Die Studie zeige, dass türkischen Migranten ihre Religion wichtiger ist als Deutschen ohne Migrationshintergrund, so Uslucan. Unter den Menschen mit türkischem Migrationshintergrund steige der Anteil der Religiösen. Somit würden auf die Religion abgestimmte Aspekte des Klinikaufenthalts in Zukunft noch wichtiger werden.
Die Studie zeige zudem, dass mehr als einem Drittel der Studienteilnehmer die Einhaltung islamischer Ernährungsangebote wichtig ist. Eine Kennzeichnung der Nahrungsmittel, am besten auf türkisch, oder speziell abgestimmte Speisepläne könnten die Situation ohne großen Mehraufwand deutlich verbessern.
Erwartungsgemäß wünscht sich die Mehrheit der weiblichen Befragten eine Betreuung durch Frauen. Neu sei jedoch, so Uslucan, dass auch männlichen Patienten eine gleichgeschlechtliche pflegerische und ärztliche Betreuung wichtiger ist verglichen mit deutschen Männern und Frauen. Da insbesondere die Krankkenpflege überwiegend weiblich sei, dürfte es für viele Kliniken eine Herausforderung sein, sich auf diesen Wunsch der Männer mit türkischem Migrationshintergrund einzustellen.