Auch ein Jahr nach der Eröffnung des ersten Demenzdorfes in Deutschland sind die Kritiker nicht verstummt. „Der Zaun ist störend, das ist wie eine geschlossene Einrichtung", heißt es. Oder: „Hier wird Inklusion verhindert." Kerstin Stammel hat gelernt, damit umzugehen. Die 45-jährige Altenpflegerin und Betriebswirtin kann sich über solche Äußerungen nur wundern, zumal diese nie persönlich geäußert wurden.
Kerstin Stammel gehört zu den Initiatoren des Demenzdorfes. Von Anfang an hat sie die Ideen, Planungen und Umsetzung der Anlage für Demenzerkrankte in Hameln mitgestaltet und begleitet. „Bei unseren Planungen", sagt Stammel, „stand die Struktur für demente Menschen im Vordergrund und nicht die Pflege." Die Bewohner sollten nicht nur sauber, satt und gewickelt sein, sondern sie sollten ihren Alltag erleben können.
Konkret heißt das, die Bewohner helfen mit beim Einkaufen, beim Kochen, bei der Zubereitung des Frühstücks oder bei der Gartenarbeit. „Es gibt Bewohnerinnen, die haben ihr Leben lang das Essen für die Familien zubereitet."
Wenn man denen einen Apfel und ein Messer in die Hand drückt, fangen sie an zu schälen. „Wir wollen mit unserem Konzept so lange wie möglich das Gewohnte fördern." Das sei eine Möglichkeit, Hospitalismus zu verhindern, denn wenn Menschen keine Aufgaben mehr hätten, keine Anregungen mehr erhielten, dann werde Integration in die Gemeinschaft verhindert.
Das Gewohnte fördern
Während Stammel ihre Überlegungen zum Demenzdorf schildert, aus der Sicht der Initiatoren sollte es nie Demenzdorf heißen, sondern Lebensraum für Menschen mit Demenz, sieht man, wie draußen ein älterer Herr die Stangen eines Zeltes sorgfältig auseinanderschraubt und auf dem Boden stapelt. Holzbänke und Tische werden zusammengeklappt.
„Männer mögen es, wenn sie an handwerklichen Dingen beteiligt sind", sagt Kerstin Stammel und erzählt, dass der demenzerkrankte Mann regelmäßig dem Hausmeister helfe. Abends sei er dann so müde, dass er keine Psychopharmaka zum Einschlafen brauche. „Die Menschen, die hier leben, sind am Alltag beteiligt." Das sei ausdrücklich gewünscht.
Eine Bewohnerin liebe es beispielsweise, die Krümel vom Tisch zusammenzufegen. Warum denn nicht? Sie habe ihren Mitarbeiterinnen mühsam beigebracht, nicht sofort allen Dreck und jeden Krümel wegzufegen, sondern auch noch etwas für die Bewohner übrig zu lassen. Alles natürlich auf freiwilliger Basis. Im Demenzdorf in Hameln leben ausschließlich Menschen, die in ihrem häuslichen Umfeld nicht mehr zurechtkommen.
Viel Alltagsleben
Stammel hat deutschlandweit und darüber hinaus viele Heime gesehen und sie war unzufrieden mit der Art und Weise, wie dort Demenzerkrankte betreut wurden. Viele Häuser seien zu eng gebaut, es gebe zu wenig Möglichkeiten, sich dort zu bewegen und die Bewohner, die unter Bewegungsdrang leiden, werden häufig mit Medikamenten ruhig gestellt. „Wenn es im Heim totenstill ist, dann stimmt dort etwas nicht."
Die 45-Jährige wollte für die Bewohner der Anlage eine große Außenfläche, eine Art Treffpunkt, in deren Mitte ein Brunnen steht, so wie es auch auf dem Marktplatz in Hameln der Fall ist. „Die Bewohner haben gemeinsam mit Ehrenamtlichen Hochbeete mit Gemüse und Salaten bepflanzt, es gibt einen Naschgarten mit Heidelbeeren, Stachelbeeren und Erdbeeren und jeder kann sich nach Lust und Laune bedienen." Es solle in allen Bereichen möglichst viel Alltagsleben geben.
Das Demenzdorf besteht aus vier „Villen", in denen jeweils 13 Bewohner leben. Vor einigen Türen flattert frisch gewaschene Wäsche, die von den Bewohnern aufgehängt wurde. „Die Pflege", so Stammel, "ist bei uns fast wie ein ambulanter Dienst." Bei ihnen stünden die Alltagsgestalter im Vordergrund, die die Bewohner wie in einer Großfamilie beim Waschen, Kochen, Einkaufen unterstützten. „Die Pflegekräfte kommen nur, wenn sie gebraucht werden, beispielsweise bei der Medikamentenvergabe, zum Blutdruckmessen oder Ähnlichem."
Die 45-Jährige ist stolz auf das Konzept, das nur funktionieren kann, wenn es von den Mitarbeitern und den Angehörigen getragen wird. Daher gibt es regelmäßige Gespräche mit Angehörigen und Mitarbeitern.
Susanne Schreiter ist die Tochter einer demenzerkrankten älteren Dame. Sie sagt voller Überzeugung: „Es gibt in Deutschland nichts Besseres und der großzügig angelegte Garten lädt zum Verweilen ein." Ihre Mutter könne hier geschützt spazieren gehen, ohne dass sie, die Tochter Angst haben müsse, dass die Mutter das Areal verlasse. Nachts seien alle Türen alarmgesichert, sodass die Bewohner im Dunklen im Garten laufen könnten, ohne dass sich jemand daran störe.
Mittendrin
Paulina Zwiklinska arbeitet als gerontopsychiatrische Fachkraft im Demenzdorf. Sie verrichtet ihre Arbeit gern und erlebt sie als sinnvoll. „Viele Menschen, die hierher kommen, haben zuhause Psychopharmaka und Beruhigungsmittel erhalten." Unter ärztlicher Aufsicht würden hier die Medikamente reduziert, weil die Bewohner die Möglichkeit hätten, ihren Bewegungsdrang auf natürliche Weise auszuleben.
„Einmal", erinnert sich die 27-Jährige, „habe ich eine Bewohnerin nach dem Urlaub kaum noch erkannt, weil sie wegen einer reduzierten Medikamentengabe gut ansprechbar und lebendig wirkte." Inklusion? Bei dieser Frage muss die Pflegefachkraft lachen. „Bei uns findet mehr Inklusion statt als anderswo."
Es gebe regen Kontakt zum Reiterhof, der gleich nebenan sei, einmal im Monat gebe es ein Konzert, zu dem auch Gäste von außerhalb geladen seien, die Nordic Walking Gruppe aus dem Ort gehe mit Bewohnern rund um den See, die Jugendmusikschule sei häufig zu Gast und Ehrenamtliche würden mit den Bewohnern gemeinsam Beete pflanzen. „Wir sind", sagt Zwiklinska, „mittendrin und keineswegs abgeschottet."