Märchen haben auf Menschen, die an mittelschwerer und schwerer Demenz erkrankt sind, eine positive Wirkung. Sie steigern die Lebensqualität, führen zu Wohlbefinden und sollten daher in Pflegeeinrichtungen angeboten werden. So fasst Prof. Dr. Ingrid Kollak von der Alice-Salomon-Hochschule das Ergebnis ihrer Begleitstudie zu „Es war einmal - Märchen und Demenz" zusammen.
Ein Team der Alice Salomon Hochschule war mit der wissenschaftlichen Begleitung des Projekts „Es war einmal … Märchen und Demenz" betraut. Das „Märchenland – Deutsches Zentrum für Märchenkultur" hatte das Projekt initiiert und durchgeführt. Mittelgeber waren das Bundesfamilienministerium sowie die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales Berlin. Projektpartner und Mittelgeber waren die Katharinenhof-Gruppe, Agaplesion – Bethanien Diakonie am Schwarzen Berg und Agaplesion – Markus Diakonie am Dorfanger.
Für das Team der Alice Salomon Hochschule standen folgende Fragen am Anfang der Studie:
- Wie reagieren Menschen mit Demenz, die an den Märchenerzählungen teilnehmen?
- Interagieren die vom Team beobachteten Menschen mit Demenz untereinander und mit der Märchenerzählerin?
- Gibt es Zuhörer-Typen?
- Welche Bedingungen sind günstig: Wie groß kann die Gruppe der Zuhörenden sein? Wie sollte die Gruppe zusammengesetzt sein? Können Menschen mit Demenz, aber unterschiedlichen Grunderkrankungen, eine Gruppe bilden? Wie sieht der passende Ort aus? Wie lange kann erzählt werden? Und nicht zuletzt: Was macht einen guten Märchenerzähler aus?
Die Betroffenen selbst können auf diese Fragen nur eingeschränkt antworten. Stellvertretend hätten Menschen befragt werden können, die sich um diese Menschen mit Demenz kümmern. Allerdings könnten sie befangen sein, eine völlig andere Perspektive besitzen oder keine Zeit haben. Aus diesen und weiteren Gründen entschied sich das Team, Video aufzuzeichnen. Die kleinen Kameras wurden aufgestellt und von der Gruppe nicht weiter beachtet. Da die Interaktion zwischen der Gruppe und der Märchenerzählerin sowie der Gruppenmitglieder untereinander ausgewertet werden sollte, wurden zwei Kameras benötigt: eine für die Gruppe und eine für die Märchenerzählerin. Ereignisse, die sich rund um die Filmaufnahmen ereignet hatten, aber nicht mit aufgezeichnet wurden – zum Beispiel eine Person schaut von außen durch ein Fenster zu oder im Hintergrund spült jemand Geschirr – wurden protokolliert.
Zehn Stunden Filmmaterial zum auswerten
Die Perspektiven auf eine Gruppe der Zuhörenden und auf die Märchenerzählerin wurden in einen Film geschnitten, sodass eine Gruppe von meistens vier Personen gut zu sehen war, und in einem kleinen Bild oberhalb oder unterhalb der Gruppe erschien die Märchenerzählerin. Zudem beobachtete das Team die Teilnehmenden der Märchenveranstaltungen auch im Alltag. Das Team war in den Wohneinheiten und sprach mit den Bewohnern, schaute, was sie tagsüber machten und was zu ihnen in der Pflegedokumentation stand.
Interviews mit Betreuern, Pflegefachpersonen, aber auch der Hausleitung und den Märchenerzählerinnen wurden durchgeführt, um auch deren Perspektive aufnehmen zu können. Auf diese Weise kamen über zehn Stunden Filmmaterial, 160 Seiten Interviews sowie Kurzprotokolle und Daten der Patientendokumentation zusammen.Über 60 Personen nahmen an den Märchenveranstaltungen teil. Von 30 gab es Videoaufzeichnungen sowie die Daten aus der Pflegedokumentation und den Beobachtungen. Alle Teilnehmenden waren von einer mittleren bis schweren Demenz betroffen, zeigten ein herausforderndes Verhalten, waren freiwillig bei den Märchenveranstaltungen anwesend und konnten das Geschehen gut verfolgen. Sie konnten die Märchenerzählerin hören und sehen und waren nicht sediert.
Die Videoanalysen liefen immer so ab, dass sich die anwesende Gruppe zuerst den ersten Moment der Erzählung als Standbild ansah, dann weitere Standbilder nach zehn und zwanzig Minuten sowie das letzte Bild. Dann gab es einen Schnelldurchlauf, um einen Eindruck von den Bewegungen zu bekommen. Zuletzt erfolgte die genaue Analysen einzelner Abschnitte. Diese Videoanalysen wurden immer in Gruppen durchgeführt, um sich gegenseitig über die Eindrücke austauschen zu können.
Bewohner nahmen aktiv teil Es waren sehr spannende Interaktionen zu beobachten. Als beispielsweise die Märchenerzählerin den Fischer nachahmt, der über das Meer dem Butt zuruft „Meine Frau möchte Papst werden", sagt ein Teilnehmer: „Der Arme!" Dann folgendes Missverständnis: Die Märchenerzählerin erzählt vom Prinzen und Schneewittchen, schaut in die Runde und ist auf Höhe der ganz rechts sitzenden Teilnehmerin als sie sagt: „Willst Du meine Frau werden?". Die Teilnehmerin steht auf und sagt „Ja".Von den 30 Teilnehmern, über die ausführliche Videoanalysen vorliegen sowie Daten aus den Alltagsbeobachtung und der Dokumentation, nahm gut die Hälfte (16) aktiv teil. Sie klatschten, sprachen Sätze nach, schauten zu ihren Nachbarn, machten Bemerkungen oder vervollständigten Sätze der Märchenerzählerin. Ihre Rückmeldungen wurden dabei von den Märchenerzählerinnen positiv validiert. Von den anderen 14 waren zwei Personen dabei, die vom Team als unentschlossen charakterisiert wurden. Denn mal waren sie begeistert dabei und mal hatten sie keinen Spaß am Märchenerzählen und verließen eher die Veranstaltung. Bei zwei weiteren Teilnehmenden gab es den Eindruck, dass sie völlig unbeteiligt blieben. Es war allerdings interessant, dass diese Personen immer wiederkamen und nach Auskunft der Pflegefachpersonen auch immer zu den Veranstaltungen wollten. Die übrigen Personen waren interessierte Teilnehmende, verhielten sich aber eher zurückhaltend. Darüber hinaus konnten Teilnehmende, die zum Beispiel ständig murmelten, gut in die Gruppen integriert werden. Solche, die tagsüber viel hin und her liefen, blieben sitzen. Bewohner, die als apathisch beschrieben wurden, klatschten, sprachen mit.
Das Studienteam stimmt der in der Fachliteratur vertretenen Definitionen von Lebensqualität zu, nach der sich Lebensqualität in einem allgemeinen Wohlbefinden äußert. Ebenso stimmt das Team der wissenschaftlichen Erkenntnis zu, dass sich an den Alltagsfähig- und -fertigkeiten sowie den Möglichkeiten, sich verbal oder non-verbal zu äußern, die Verhaltenskompetenz bei Menschen mit Demenz messen lässt. Danach lässt sich sagen, dass das beobachtete Märchenerzählen Verhaltenskompetenzen steigert.
Auch die Rahmenbedingungen müssen stimmen Damit Wohlergehen und Verhaltenskompetenzen von Menschen mit Demenz durch Märchenerzählen gesteigert werden können, braucht es aber bestimmte Bedingungen.
Das Märchenerzählen hat in den Häusern am besten funktioniert, wo es eine positive und wertschätzende Einstellung gab – von der Leitung bis hin zu den einzelnen Mitarbeitenden. Da waren bald alle Zuhörenden versammelt, es gab einen bestimmten Ort und Störungen wurden vermieden. Auf diese Weise hatten die Teilnehmenden einen geschützten Raum und erlebten eine Routine, die ihnen eine Orientierung erleichterte. Für die Betreuungs- und Pflegepersonen gab es eine Kompensation des Mehraufwands: Während der Märchenveranstaltung mussten sie sich um weniger Bewohner kümmern und konnten sich anderen Aufgaben widmen.
Das wiederum setzte voraus, dass die Teilnehmer der Märchenveranstaltung in sicheren Händen waren. Damit kommt die gelungene Arbeit der Märchenerzählerinnen in den Fokus. Sie sind nicht nur professionelle Erzählerinnen, die ihre Texte beherrschen und sie zum Leben erwecken. Sie können auch gleichzeitig mit Störungen umgehen. Sie verlieren nicht den Faden, wenn jemand die ganze Zeit über murmelt oder wenn es plötzlich „ganz schön komisch riecht".
Um mit solchen Situationen umgehen zu können, besuchten die Märchenerzählerinnen des Projekts vorab eine Schulung zu den Themen Demenz, Altenpflege und speziell den Umgang mit an Demenz erkrankten Menschen. Sie hatten nach der Schulung keinerlei Berührungsängste in Kontakt mit den Bewohnern zu treten. Nach mehr als 140 Veranstaltungen sind die Märchenerzählerinnen mittlerweile Profis.
Weiterbildung zum Demenzerzähler
Das professionelle Können der Märchenerzählerinnen sowie das Know-how der Projektleitung und des Märchenlands sollen mit den Erkenntnissen der Studie zusammengebunden werden. Ab dem kommenden Frühjahr wird es eine Weiterbildung zum Demenzerzähler an der Alice Salomon Hochschule geben. Das ist eine akademische Ausbildung, die mit einem Hochschulzertifikat abschließt.
Das Fazit der Studie: Ein professionelles, regelmäßiges und strukturiertes Märchenerzählen ermöglicht Menschen mit Demenz und herausfordernden Verhaltensweisen Wohlbefinden und aktiviert Verhaltenskompetenzen. Ein solches Märchenerzählen ist bedürfnisorientiert, steigert die Lebensqualität von Menschen mit Demenz und sollte in Pflegeeinrichtungen angeboten werden.
Kurzcharakteristik Zertifikatskurs DemenzerzählerIn©
Hochschule: Alice Salomon Hochschule Berlin
Wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. Ingrid Kollak
Kursleitung: Diane Dierking (Projektleiterin „Es war einmal … Märchen und Demenz")
Kooperationspartner: Märchenland – Deutsches Zentrum für Märchenkultur, Katharinenhof Seniorenwohn- und Pflegeanlage, Agaplesion Bethanien Diakonie
Seminarzeitraum: 8 Veranstaltungstermine vom 22. April 2016 bis 10. Dezember 2016
Seminarzeiten: Fr: 15:00 bis 20:00 Uhr und Sa: 10:00 bis 18:00 Uhr
Seminarort: Alice Salomon Hochschule, Praktikum in den Häusern der Praxispartner in Berlin oder selbstgewählt
Abschluss: Hochschulzertifikat, das von der Alice Salomon Hochschule in Kooperation mit dem Märchenland – Deutsches Zentrum für Märchenkultur vergeben wird
Informationstag: 22.02.2016 an der Alice Salomon Hochschule
Bewerbung: Bitte bewerben Sie sich schriftlich mit dem Bewerbungsformular unter www.ash-berlin.eu/weiterbildung
Bewerbungsfrist: 29. Februar 2016
Weitere Informationen finden Sie unter www.ash-berlin.eu/weiterbildung