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Ambient Assisted Living

E-Assistenten für Pflegebedürftige: Wenig verbreitet, kaum bezahlbar und fachlich umstritten

Noch immer stoßen technikgestützte Assistenzsysteme in der ambulanten und stationären Pflege auf Skepsis und Hürden: Obwohl große Träger der Altenhilfe, der mächtige Dachverband von 111 Senioren-Organisationen (BAGSO), der Spitzenverband der Wohnungswirtschaft (GdW) und Wissenschaftler die vielen Vorzüge sinnvoller Technik für Hilfs- und Pflegebedürftige bestätigen, stehen ihrer flächendeckenden Einführung in Deutschland ihre mangelnde Bekanntheit, ihre unzureichende Finanzierung und Bedenken von Pflegeverantwortlichen entgegen.

 

Lebenserleichternde Technik für Ältere mit zunehmenden Hilfs- und Pflegebedarf gibt es schon lange. Bereits ab 2007 testete die Baugesellschaft Bau AG in Kaiserslautern mit gut 20 Senioren in barrierefreien Wohnungen der Albert-Schweitzer-Straße nützliche elektronische Assistenten: Mit ihrem internetfähigen Tablet-PC-System „PAUL" schalteten sie vom Sofa aus das Licht an, schlossen sie die  Fenster oder sahen über eine Kamera, wer an der Haustür klingelt.

Bis zu 30 Sensoren pro Wohnung meldeten, ob ein Lichtschalter betätigt, Wasser verbraucht oder sich jemand in den Räumen bewegt. Stürzte ein  Bewohner und stand nicht wieder auf, wurde der Nachbar alarmiert. Die Bilanz zu diesem rheinland-pfälzischen Modellprojekt „Ambient Assisted Living - Wohnen mit Zukunft", das der Lehrstuhl für Automatisierungstechnik der TU Kaiserslautern und das Unternehmen für Halbautomation Cibek technisch begleiteten, zog Annette Spellenberg: „Die Wohnzufriedenheit ist hoch, fast alle Bewohner haben PAUL in ihren Alltag integriert. Die Technik ersetzt nicht den Kontakt mit den Nachbarn, im Gegenteil, sie fördert ihn." Seit dem Ende der Landesförderung betreuen Beteiligte das Projekt nur noch ehrenamtlich. Denn es fehlt an Geld für sinnvolle neue Technik und begleitende Dienstleistungen.


Bündnis macht Druck

Mit ihrem neuen „Bündnis für technikgestütztes selbstbestimmtes Wohnen" machen zwei starke Partner seit November 2015 in Berlin Druck, endlich mehr für nützliche Technik zu investieren, die Hilfs- und Pflegebedürftige selbstständiger und unabhängiger macht: die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) mit ihren 13 Millionen Mitgliedern in 111 Verbänden und der Spitzenverband für Wohnungswirtschaft (GdW) mit seinen 3.000 Wohnungsunternehmen, rund sechs Millionen Wohnungen und über 13 Millionen Bewohnern. Ihre „Gemeinsame Erklärung" überreichten die damalige BAGSO-Vorsitzende Ursula Lehr und GdW-Präsident Axel Gedaschko dem Pflegebeauftragten der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann.

„Die Wohnung muss zunehmend zu einem Standort für Gesundheit und Pflege werden, wenn wir den demografischen Wandel in Deutschland erfolgreich bewältigen wollen", sprach Gedaschko dem Pflegebeauftragten ins Gewissen. „Technische Assistenzsysteme sind der Schlüssel dafür, dass insbesondere gesundheitlich eingeschränkte Personen in ihren Wohnungen besser betreut werden können." Lehr erklärte, warum: Sie könnten Hilfs-und Pflegebedürftigkeit verhindern helfen, Kranken mehr Kontakt zur Umwelt verschaffen, Sicherheit vermitteln, ihre Selbstständigkeit fördern und ihren verfrühten Umzug in ein Pflegeheim verhindern. Die ehemalige Bundesfamilienministerin: „Das erhöht die Lebensqualität der Betroffenen und der Pflegenden und erspart auch Kosten."

Wünsche nicht erfüllt


Doch die Wünsche des Bündnisses, die Anschaffung und laufende Kosten von Assistenztechnik für Pflegebedürftige und Demenzkranke am besten gleich mit dem wegweisenden Pflegestärkungsgesetz II und die Telemedizin mit dem E-Health-Gesetz für Einkommensschwache und Normalverdiener erschwinglicher zu machen, blieben unerfüllt: In beiden beschlossenen Gesetzen steht nichts dazu.

Stattdessen bemühen sich Fachanwältinnen wie Anja Möwisch aus Hannover weiter, den Pflegekassen in Einzelfällen Gelder für die Beschaffung nützlicher Technik abzuringen. Möwisch gegenüber Station24: „Von den jährlich 4.000 Euro für wohnraumverbessernde Maßnahmen, auf die  Demenzkranke und Pflegebedürftige bei Bedarf Anspruch haben, lässt sich die Anschaffung pflegedienlicher Technik sehr wohl finanzieren. Das habe ich bereits für Klienten erreicht."

Der Knackpunkt aus Sicht der Juristin: „Obwohl die Vorschriften im SGB XI völlig ausreichen, werden sie in Ausführungs-Richtlinien und im Hilfsmittelkatalog der Pflegekassen nicht konsequent umgesetzt." Daher sollte das Parlament die Gesetzesbegründung so konkretisieren, dass pflegeunterstützende, letztlich Kosten sparende Technik von den Pflegekassen bezahlt werden muss. „Ausgaben für Anschaffung und Betrieb pflegedienlicher Technik von Pflegeheimen sollten von den Kassen  bei Investitionskosten und Pflegesätzen berücksichtigt werden", fordert Möwisch.

Erfolgreiche Tests großer Träger

Positive Erfahrungen haben große Altenhilfe-Träger mit technischen Assistenten gemacht. Zu „smart homes" hat die Bremer Heimstiftung  Wohnungen einer Betreuten Wohnanlage im Stiftungsdorf Arberger Mühle umbauen lassen. Über Tablet-PCs mit Smartbox-Software können rüstige Ältere und Pflegebedürftige dort ihre Fensterrolladen, die Beleuchtung, die Heizung, ihren Fernseher und ihre Video-Türüberwachung steuern.

Über Skype und E-Mails halten sie Kontakt zu ihren Familien und Freunden. Ein Ergebnis dieses vom Bund bezuschussten Modellprojekts laut Egon Krieger: „Die Bewohner sind begeistert von den Möglichkeiten des Tablets, auch wenn das für uns begleitungsintensiv ist. Sie haben mehr Kontakt untereinander und über das Internet. Sie fühlen sich selbstständiger als zuvor." Der Geschäftsführer der Bremer Kontor GmbH, die für die Heimstiftung die Gebäude bewirtschaftet und  technisch betreut: „Die Hausleitung sieht die neue Technik als große Bereicherung im Leben älterer Menschen an." Der Manager: „Zug um Zug werden wir den Einsatz von Assistenztechnik weiter ausrollen. Anfang 2016 wollen wir die nächste Betreute Wohnanlage damit ausrüsten."


Der größte Altenhilfe-Träger in Baden-Württemberg, die Evangelische Heimstiftung mit 73 Pflegeeinrichtungen und 6.800 Mitarbeitenden, gründete sogar ein Innovationszentrum, auch um hilfreiche Technik für Pflegebedürftige zu erproben. Pflegetechnik-Referent Josef Huber: „Die neue Technik ist noch unzureichend in unsere Pflegekonzepte integriert. Daher reagieren einige Pflegedienstleitungen noch skeptisch." In einzelnen Häusern teste man jedoch die neue Technik und aktivierende, das Gedächtnis fördernde PC-Spiele auf Tablets für Demenzkranke.


Demenzkranke profitieren

Sehr hohen Nutzen haben die E-Assistenten für die qualifizierte Betreuung von Demenzkranken, meinen Pflegeverantwortliche andernorts. In drei Wohngemeinschaften für rund 20 demenzkranke Ältere nutzt der ambulante Pflegedienst Alpha des Sozialwerks St. Georg in Duisburg viele technische Helfer. Prokuristin Heike Perszewski zu diesem geförderten Modellvorhaben: „Auch dank des Einsatzes von technischen Assistenten können unsere Bewohner hier ein relativ selbstbestimmtes Leben führen."

Technik des Fraunhofer-Instituts für Mikroelektronische Schaltungen und Systeme in Duisburg unterstützt die Pflegenden und Betreuerinnen in den WGs. Ein intelligentes Haus-Netzwerk sorgt dafür, dass sich der Herd automatisch abschaltet, sobald ein Rauchmelder Warntöne sendet. Gleichzeitig wird die Pflegekraft per SMS benachrichtigt. Elektronik an jeder WG-Wohnungstür informiert eine Betreuerin, sobald ein Bewohner gehen will. Heike Perszewski: „Auf freiheitsentziehende Maßnahmen für unsere Klienten können wir dadurch verzichten."

Als sehr sinnvoll haben sich auch Bewegungsmelder erwiesen, nicht nur zur nächtlichen Sturzvorbeugung. Fachkraft Anne Huffziger schildert ein Beispiel: „Der Bewegungsmelder im Zimmer einer Bewohnerin signalisierte, dass sie oft zwischen 2 und 4  Uhr morgens unruhig ihr Bett verließ und erst dann wieder einschlief." Obwohl das die Demenzkranke nicht mehr wusste, bemerkten die Pflegekräfte dadurch, warum sie sich tagsüber so müde vom Gemeinschaftsleben zurückzog. Sie ließen die Seniorin vom Hausarzt untersuchen, der die Schlafstörungen therapierte. Elektronische Überwachung erwies sich in diesem Fall somit als gesundheitsfördernd.


Nachfrage für High-Tech-Wohnungen

Doch auch ohne Fördergelder und frei finanziert lassen sich schöne Wohnungen mit moderner Assistenztechnik gut vermarkten - an wohlhabendere Ältere. Das zeigt ein Beispiel aus Wittlich in Rheinland-Pfalz. In der Edel-Residenz „Fürstenhof" schuf die Bitburger Faco Immobilien GmbH vor fünf Jahren 41 Miet- und Eigentumswohnungen mit High-Tech-Ausstattung. Für ihr „Komfortwohnen mit Service" gewann sie viele gut situierte Ältere als Mieter und Käufer.

Direkt im „Fürstenhof" residieren neben diesen „Golden Agern" auch Arztpraxen und das DRK. Doch da viele Betreuungsverträge ablehnten, erhielten sie gegen Gebühr das elektronische Service-, Informations- und Kommunikationsmodul „ProDomo"". Per Knopfdruck auf die TV-Fernbedienung sehen sie nahe gelegene Serviceangebote auf ihrem Bildschirm, können  Einkäufe in Auftrag geben, das DRK kontaktieren und sonntags frische Brötchen ordern.

Mit einfachen Mitteln überwacht Faco das Wohlbefinden seiner Bewohner: Da fast  alle täglich Fernsehen schauen, meldet „ProDomo" dem DRK-Servicecenter, wenn jemand bis 21 Uhr sein TV-Gerät nicht eingeschaltet hat. Eine Servicekraft erfragt dann telefonisch den Zustand des Bewohners und sorgt bei Bedarf für einen Notarzt.

Technik-Standards fehlen

Ein Grundproblem neuer Assistenztechnik für Hilfs- und Pflegebedürftige kennt Wolfgang Deiters, Vize-Chef des Fraunhofer-Instituts für Software- und Systemtechnik ISST in Dortmund: „Damit intelligente Wohnumgebungen funktionieren können, müssen über kurz oder lang passende IT-Standards entwickelt werden, die die Entwicklung von Dienste-Märkten und damit den Aufbau von Sozialstrukturen mit technischer Unterstützung ermöglichen." Seine Prognose: „Nur personalisierte Dienste auf Basis einer einheitlichen technischen Infrastruktur werden in Zukunft für Anbieter wirtschaftlich und für Nutzer akzeptabel."

Wie wenig hierzulande die Standardisierung und Normung von IT-Schnittstellen und Technik zur Erleichterung des menschlichen Lebens (AAL - ambient assisted living) vorangeht, bestätigt ein Schreiben von Ingenieurin Janina Laurila-Dürsch vom Fachbereich 8 der Deutschen Kommission Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik in DIN und VDE in Frankfurt/Main an Station24: Ein neues Team namens „K 801" wird dort 2016 veränderte internationale Vorgaben des IEC System Committee AAL auf Deutschland übertragen, „durchstarten" und erstmal den Begriff „ambient assisted living" für Deutsche neu definieren.

Zumindest erste Absprachen zur Normung haben die Frankfurter Experten unter anderem zu den Anforderungen an die Qualifizierung aller im AAL-Bereich Tätigen und an mobile Endgeräte im AAL-Einsatz sowie zum barrierefreien Bauen und zu barrierefreien Elektroinstallationen getroffen.

 

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