Eine gute wirtschaftliche Lage der meisten Einrichtungen trotz eines sich zuspitzenden Fachkräftemangels und einer zunehmenden Einweisung von Klinikpatienten ins Heim - das sind die zentralen Ergebnisse des Pflegeheim Rating Reports 2015. Über die zu ziehenden Schlussfolgerungen sprachen wir mit Dr. Dörte Heger.
Frau Dr. Heger, in Pflegeheimen werden bis zum Jahr 2030 rund 345.000 Vollzeitpflegekräfte mehr benötigt als heute. Diese Zahl haben Sie im neuen Pflegeheim Rating Report erhoben. Doch schon heute befinden sich die gemeldeten offenen Stellen in der Altenpflege auf einem historischen Hoch. Was ist zu tun?
Es muss gelingen, die Verweildauer im Pflegeberuf zu verlängern, die Vollzeitquote auszuweiten und neue Auszubildende zu gewinnen.
Wie kann dies erreicht werden?
Betreiber können über die sogenannten weichen Faktoren ihre Arbeitsplatzattraktivität wesentlich beeinflussen, zum Beispiel über eine gute Führungskultur und den Ausbau von Karrieremöglichkeiten. Ein betriebliches Gesundheitsmanagement kann außerdem dazu beitragen, Fehlzeiten zu reduzieren.
Müssen nicht auch die Löhne steigen?
Um die Attraktivität des Pflegeberufs zu erhöhen, werden auch die Löhne für qualifiziertes Personal gegenüber Hilfskräften steigen müssen. Dies dürfte allein schon aus dem Mangel an Fachkräften und aus dem Wettbewerb der Arbeitgeber um qualifizierte Mitarbeiter geschehen. Es ist aber klar, dass höhere Löhne am Ende auch höhere Preise für Pflegeleistungen bedeuten.
Laut des Pflegeheim Rating Reports geht es den meisten stationären Pflegeeinrichtungen wirtschaftlich sehr gut. Ist es da nicht folgerichtig, den Pflegenden mehr Geld zu zahlen?
Zwar ist das derzeitige durchschnittliche Rating der Pflegeheime gut. Bei steigendem Lohndruck wird sich die Lage aber deutlich verschlechtern. Sollte dies der Fall sein, wird es weniger Investitionen in neue und bestehende Einrichtungen geben. Es käme dann zu einer Verknappung des Angebots und damit zu steigenden Preisen für Pflegeleistungen. Damit wäre eine höhere Belastung der Pflegebedürftigen und der Sozialhilfeträger verbunden.
Ein weiteres Ergebnis der Studie ist, dass immer mehr Menschen direkt aus dem Krankenhaus ins Pflegeheim eingewiesen werden. Welche Zahlen haben Sie hier ermittelt?
Bei einer angenommen durchschnittlichen Pflegeheim-Verweildauer von 18 Monaten ergibt sich, dass knapp 70 Prozent der Neuzugänge direkt aus Krankenhäusern überwiesen werden.
Wie erklären Sie sich diese hohe Zahl?
Die genauen Ursachen dafür sind unklar. Offenbar findet eine Verlagerung der Pflege vom Krankenhaus in das Pflegeheim statt, was grundsätzlich Sinn macht. Die Umstellung der Krankenhausvergütung auf Fallpauschalen im Jahr 2004 könnte diese Entwicklung in Gang gesetzt haben.
Ist das aus Ihrer Sicht eine erfreuliche Entwicklung oder sollte künftig eher der ambulante Sektor gestärkt werden?
Es stellt sich hier natürlich die Frage, ob einige Pflegefälle nicht hätten vermieden werden können. Die Vermeidung von Pflegebedürftigkeit wird künftig eine wichtige Rolle spielen, um einen Kollaps in der Altenpflege zu verhindern. Prävention und die konsequente Umsetzung des Prinzips „Rehabilitation vor Pflege" sind hier wichtige Stichworte. Zudem ist ein verstärkter Technikeinsatz nötig, um ein längeres selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.
Der Pflegeheim-Markt ist eine Wachstumsbranche. Ist davon auszugehen, dass dies angesichts der steigenden Zahlen von pflegebedürftigen Menschen weiter anhält?
Ja, das ist sicherlich zu erwarten. Zum einen steigt die Zahl der Pflegebedürftigen in etwa mit der Zahl der hochbetagten Menschen in Deutschland. Zum anderen dürfte das familiäre Pflegepotenzial sinken, weil die Zahl junger Menschen sinkt. Damit steigt die Nachfrage nach professionellen, also ambulanten und stationären Pflegeleistungen.
Pflegeheime haben in Deutschland nicht gerade den besten Ruf. Stimmt die Befürchtung vieler, dass der Profit mehr zählt als eine menschenwürdige Pflege?
Profit bedeutet nicht gleich schlechte Pflege und umgekehrt. Im Report finden wir sogar einen leicht positiven Zusammenhang zwischen Qualität und Wirtschaftlichkeit. Wichtig ist, dass das System so gemacht ist, dass man nur bei guter Pflege Profit machen kann – wie in anderen Branchen auch. Wer schlechte Qualität liefert, sollte einen Einbruch bei der Auslastung verzeichnen, was sofort zulasten der Profite geht. Umgekehrt sollten Heime mit guter Qualität voll ausgelastet und damit auch profitabel sein.
Wo sehen Sie persönlich Grenzen der Wirtschaftlichkeit im Pflegemarkt?
Das Problem ist, dass es in den kommenden Jahren und Jahrzehnten schwierig werden wird, immer mehr Pflegebedürftige zu versorgen, wenn die Zahl der jungen Menschen, die die Pflege finanzieren, abnimmt. Darunter kann das Qualitätsniveau aller Pflegeanbieter leiden, weil allen gleichmäßig Ressourcen entzogen werden. Man kann dies auffangen, indem die Leistungserbringung wirtschaftlicher wird. In einer Dienstleistung wie der Pflege ist das aber schwerer als anderswo, weil man zum Beispiel keine Roboter einsetzen kann - oder will. Dennoch sollten wir als Gesellschaft offen für Innovationen sein - auch in Bezug auf Pflege. Denn nur dadurch können wir effizientere Lösungen überhaupt erst finden.
Frau Dr. Heger, vielen Dank für dieses Gespräch.
Hintergründe zum Pflegeheim Rating Report
Der Pflegeheim Rating Report 2015 untersucht zum fünften Mal die derzeitige und künftige Situation des deutschen Pflegemarkts und schlägt Maßnahmen vor, mit denen den drohenden Engpässen begegnet werden könnte. Für die aktuelle Ausgabe werteten das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI), die HCB GmbH und die Philips GmbH 469 Jahresabschlüsse aus, die insgesamt 2252 Pflegeheime umfassen. Zudem berücksichtigt der Report amtliche Daten des Statistischen Bundesamts aller rund 13000 Pflegeheime, 12700 ambulanter Dienste und 2,6 Millionen Pflegebedürftiger.