• Praxis
Gewalt in der Pflege

Der schmale Grat

Wie definiert man in der Pflege und Betreuung von Menschen Gewalt und wie äußert sich diese? Der manchmal schmale Grat zwischen Erlaubtem und Verbotenem kann schnell überschritten werden, wenn man sich den rechtlichen Bestimmungen nicht bewusst ist. Eine ethisch-rechtliche Reflexion anhand zweier nahezu alltäglicher Pflegesituationen in der Pädiatrie. Jeder versteht unter Gewalt etwas anderes oder hat seine eigene Definition davon, was Gewalt ist und wie sie sich zeigt. Eine gute Definition bietet die Weltgesund-heitsorganisation (WHO): „Gewalt ist der absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichem Zwang oder physischer Macht gegen eine andere Person, der entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklungen oder Deprivation führt" (WHO, 2003).

1. Von Eltern genehmigte Maßnahmen gegen den Willen des Kindes
Wenn Kinder ins Krankenhaus kommen, entscheiden die Eltern über Maßnahmen, die das Kind betreffen (im Rahmen der elterlichen Sorge, § 1629 Abs. 1 BGB). Dies leuchtet zunächst ein, denn Personen unter 18 Jahren sind nicht oder nur beschränkt geschäftsfähig (§§ 104 ff. BGB). Sie können somit grundsätzlich keine rechtsverbindlichen Willenserklärungen abgeben, also beispielsweise den Behandlungsvertrag mit dem Krankenhaus abschließen. Soweit so gut. Die Ärzte können die Maßnahmen, sofern von den Eltern genehmigt, durchführen – notfalls auch gegen den Willen des Kindes.

Ganz so einfach ist es dann aber doch nicht. Deutschland hat neben der UN-Kinderrechtskonvention auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ratifiziert. In Artikel 12 Absatz 1 UN-Kinderrechtskonvention steht: „Die Vertragsstaa-ten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife". Ähnliches auch in Artikel 24 Absatz 1 der EU-Grundrechtcharta: „Kinder können ihre Meinung frei äußern. Ihre Meinung wird in den Angelegenheiten, die sie betreffen, in einer ihrem Alter und Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt." Und weiter in Artikel 3 Absatz 2: „Im Rahmen der Medizin muss insbesondere Folgendes beachtet werden: Die freiwillige Einwilligung der betroffenen Person nach vorheriger Aufklärung [...]."

Hinzu kommt, dass der Wille, hier die Einwilligung oder Ablehnung zu einer pflegerischen Maßnahme, keine Willenserklärung im Sinne des BGB ist, sondern als Zustimmung oder Ablehnung eines tatsächlichen Eingriffs in die körperliche Unversehrtheit angesehen werden kann (Deutsch & Spickhoff, 2014). Bei einer Maßnahme, die das Kind betrifft, zum Beispiel eine intramuskuläre Injektion, ist also der Wille des Kindes zu berücksichtigen, sofern es in der Lage ist, die Maßnahme und die damit verbundenen Konsequenzen zu verstehen.

Doch was heißt „entsprechend seinem Alter und Reife"? Hierfür gibt es keine gesetzliche Definition. Die sogenannte Selbstbestimmungsfreiheit wird weltweit unterschiedlich behandelt. In Deutschland gilt sie grundsätzlich ab dem 16. Lebensjahr und zwischen dem 14. und 16. Lebensjahr soll vom Arzt individuell geprüft werden, ob das Kind einwilligungsfähig ist. Unter 14 Jahren gelten Kinder in Deutschland in der Regel als einwilligungsunfähig. Doch warum? Betrachtet man das entwicklungspsychologisch, so ist ein Kind im Alter von elf oder zwölf Jahren nach Jean Piaget (Schweizer Entwicklungspsychologe, 1896-1980) in der „Stufe der formalen Informationen", es kann also Probleme analysieren, stellt hypothetische Fragen und kann logische Schlussfolgerungen aus vorhandenen Information ableiten. Mit anderen Worten hat ein Kind in diesem Alter die vorhandene Reife, es benötigt nur Informationen, muss also über die vor-zunehmenden Maßnahmen entsprechend aufgeklärt werden, so wie es die EU-Grundrechtcharta in Artikel 3 vorsieht. Ein weiterer wichtiger Punkt bei der Beurteilung der Reife ist die Krankheit und der Krankheitsverlauf. Chronisch erkrankte Menschen sind Experten ihrer Krankheit. Warum soll es bei Kindern anders sein? Im Jahr 2008 ging der Fall der damals 13-jährigen Hannah Jones durch die Medien, die eine lebensrettende Herztransplantation ablehnte. Hannah Jones erkrankte im Alter von fünf Jahren an Leukämie, gefolgt von unzähligen Chemotherapien und Krankenhausaufenthalten. Ein britisches Gericht bestätigte in einem Gerichtsverfahren die Selbstbestimmungsfreiheit der 13-Jährigen.

Meiner Meinung nach sollte daher in jedem Einzelfall, spätestens ab einem Alter von zehn Jahren, eine individuelle Prüfung der Einwilligungsfähigkeit eines Kindes erfolgen. Dies sollte hinsichtlich seiner Reife und Krankheit nach einer umfassenden Aufklärung über die durchzuführenden Maßnahmen geschehen. Die weitere Vorgehensweise sollte im weitern Verlauf sowohl mit dem Kind als auch den Eltern abgestimmt werden. Wird stattdessen eine Maßnahme ungeachtet des Willens des Kindes ausgeführt, wird Gewalt ausgeübt.

2. Erforderliche Intimpflege bei pubertierenden Jugendlichen durch getrennt-geschlechtliche Pflegende

Ist eine Intimpflege erforderlich, weil sie vom Arzt angeordnet wurde, und kann der Patient diese nicht selbstständig vornehmen, ist es Aufgabe der Pflegefachperson, diese zu übernehmen. Doch was ist, wenn es keine gleichgeschlechtliche Pfle-gende gibt, die die Intimpflege durchführen kann?

An dieser Stelle befindet man sich in einem ethischen Dilemma. Einerseits gibt es die ärztliche Anordnung, der man weisungsgebunden ist. Dann besteht noch die Notwendigkeit der Übernahme, weil der Patient nicht in der Lage ist, diese durchzuführen. Nicht zu vergessen: die Übernahme der Intimpflege ist Teil der pflegerischen Tätigkeiten. Andererseits ist jede Intimpflege immer auch ein Eingriff in die Intimsphäre und damit ein Eingriff in die grundrechtlich gesicherte körperliche Unversehrtheit des Körpers. Ist dies unerwünscht, kann es unter Umständen soweit kommen, dass man der sexuellen Belästigung oder schlimmstenfalls der sexuellen Nötigung beschuldigt wird. Unter sexueller Belästigung versteht das Gesetz, ein „unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, wozu auch […] sexuell bestimmte Berührungen […] gehören […], dass die Würde der betreffenden Person verletzt [...] (§ 3 Abs. 4 AGG; Auslassung: Autor). Die sexuelle Nötigung wird durch das Strafgesetzbuch wie folgt definiert: „Wer eine andere Person, […] unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist, nötigt, sexuelle Handlungen des Täters […] an sich zu dulden […] wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft" (§ 177 I Nr. 3 StGB; Auslassung: Autor). Für Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen ist darüber hinaus noch § 174a Strafgesetzbuch relevant. Hier wird der sexuelle Missbrauch von Kranken und Hilfsbedürftigen in Einrichtungen geregelt. Unabhängig davon, ob es zutrifft oder nicht, hat es unangenehme Folgen: zum Beispiel Stigmatisierung, Verlust des Arbeitsplatzes und Verlust des Tragens der Berufsbezeichnung. Der Notwendigkeit und Weisungsgebundenheit steht also der Eigenschutz gegenüber.

Welche Lösungen bieten sich an? Zum Einen kann man eine zweite oder eine gleichgeschlechtliche Pflegefachperson von einer anderen Station hinzuholen. Zum Anderen kann man die Erlaubnis des Patienten einholen, dass man die Intimpflege als getrenntgeschlechtliche Pflegefachperson übernimmt. Allerdings sollte beachtet werden, dass eine Zustimmung unterschiedliche Gründe haben kann. Vielleicht stimmt der Patient nur aus Scham zu oder er fühlt sich genötigt, weil die Intimpflege notwendig ist. Auch ist es möglich, dass der Patient für die Pflegefachperson emotionale Gefühle entwickelt hat, weil er von ihr ausgehende Signale falsch gedeutet hat.

Eine erforderliche pflegerische oder ärztliche Maßnahme kann unter bestimmten Voraussetzungen als eine sexuelle Belästigung oder Nötigung gesehen werden. Daher ist es wichtig, die Intimpflege nicht nur als pflegerische Tätigkeit anzusehen und routiniert durchzuführen, sondern sich immer der besonderen Situation bewusst zu sein und diese auch schon im Vorfeld zu reflektieren.


Deutsch, E., Spickhoff, A. (2014). Medizinrecht. (7. Auflage). Springer. Heidelberg.

Europäische Union (2000). Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 2000/C/364/01.

WHO (2003). Weltbericht Gewalt und Gesundheit. Zusammenfassung. [online]. www.who.int/violence_injury_prevention/violence/world_report/en/summary_ge.pdf
 

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