Projekt „Angstfreier Operationssaal". Medizinische Prozeduren sind für Patienten häufig mit Angst und Stress verbunden. Medikamentöse Gegenmaßnahmen sind nur begrenzt zielführend. Einen anderen Weg geht das Klinikum Westfalen in Lünen und kann damit bereits auf positive Erfahrungen zurückblicken. Über die Hintergründe des Projekts „Angstfreier Operationssaal" sprachen wir mit Chefarzt Dr. Holger Sauer.
Herr Dr. Sauer, Angst vor einer Operation zu haben, ist eine normale menschliche Reaktion. Kann es einen angstfreien Operationssaal überhaupt geben?
Es sollte zumindest angestrebt werden, diesem Ziel möglichst nah zu kommen - und man kann ihm näher kommen, als viele denken.
Warum ist das so wichtig?
Schmerzen, Angst und Stress können zu schädlichen Folgen führen. Insofern ist es auch eine medizinische Notwendigkeit, die Patienten mit ihrem Stress nicht allein zu lassen, sondern aktiv etwas dagegen zu tun. Natürlich können wir den Patienten nicht jegliche Ängste nehmen, aber es gibt viele Möglichkeiten, so wesentlich dagegen anzugehen, dass sie von den Patienten als nicht mehr quälend empfunden werden. Das sind zumindest unsere Erfahrungen nach sechs Jahren Laufzeit des Projekts „Angstfreier Operationssaal" - kurz AFRO.
Welche Maßnahmen zur Angstreduktion haben sich als hilfreich erwiesen?
Zielführend ist, die Sinne des Patienten positiv zu beeinflussen. Individuelle audiovisuelle, olfaktorische und taktile Angebote sowie eine spezielle bauliche Gestaltung können wesentlich dazu beitragen, dass das Wohlbefinden des Betroffenen steigt und dass Angst reduziert wird. Dies sollte nicht nur während einer Operation geschehen, sondern möglichst schon vorher.
Wann genau?
Von Anfang an. Eine unserer Untersuchungen hat gezeigt, dass Patienten schon über ein enormes Stressniveau verfügen, sobald sie das Krankenhaus betreten. Dieses Stressniveau ist übrigens wesentlich höher als in der Situation unmittelbar nach einer Operation, wenn Patienten Schmerzen haben und verwirrt sind. Es ist erfreulich, dass derzeit viel dafür getan wird, die postoperative Schmerztherapie und das Delirmanagement zu verbessern. Gleichzeitig ist aber zu beklagen, dass zu wenig vor einer Operation läuft.
Welche konkreten Angebote sind zielführend?
Eine sehr gute Wirkung haben Angebote, die auf Körper und Geistentspannend wirken. Da die Ressourcen der Mitarbeiter dabei zwangsläufig begrenzt sind, haben wir von Anfang an auf einen Mix aus menschlicher Zuwendung und innovativer Technik gesetzt. Wir bieten unseren Patienten beispielsweise programmgesteuerte Massagen in einem speziellen Sessel an, die um audiovisuelle Inhalte ergänzt werden. Diese audiovisuelle Suggestion kann auch außerhalb des Massagesessels fortgeführt werden: Kopfhörer und Visualisierungsbrillen ermöglichen einen abteilungsunabhängigen Einsatz – auch im OP selbst oder auf der Intensivstation machen wir damit sehr gute Erfahrungen. Wir haben sogar in bestimmten Fällen probiert, solche Angebote bewusstlosen, beatmeten und narkotisierten Patienten anzubieten und auch bei dieser Klientel sind die Resultate erstaunlich gut.
Können Sie die audiovisuelle Suggestion näher beschreiben?
Patienten erhalten einen Kopfhörer und eine Visualisierungsbrille. Über diese Brille werden in einer ganz bestimmten Frequenz, die der Ruhefrequenz eines EEG entspricht, Lichtimpulse gesendet. Dies erzeugt bei vielen Patienten – wenn auch nicht bei allen – kaleidoskopartige Bilder, die eine Beruhigungswirkung haben. Gleichzeitig wird über die Kopfhörer gesprochene oder musikalische Suggestion eingesetzt, die ebenfalls relaxierend wirken soll. Die Patienten sind sozusagen in einer anderen Welt, abgeschnitten von potenziell unangenehmen Geräuschen des Medizinbetriebes.
Das Aufreißen von Verpackungen zum Beispiel, das in Funktionsbereichen ja sehr häufig vorkommt, assoziieren manche Patienten mit Höllenfeuer. Solche destruktiven Impulse sind weitgehend ausgeschaltet, was sich sehr positiv auf die Betroffenen auswirkt. Wir verfügen auch über andere Brillen, über die wir den Patienten dreidimensionale Filme zeigen können. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass im Ausland – unabhängig von unserem Projekt – kürzlich eine Reduktion postoperativer Komplikationen nachgewiesen wurde, wenn Patienten intraoperativ Wunschfilme dargeboten bekamen. Beide audiovisuelle Verfahren setzen wir jedenfalls vor und während Operationen in Regionalanästhesie ein.
Zudem arbeiten Sie mit einer speziellen baulichen Gestaltung …
Genau, das ist allein schon deswegen wichtig, weil nicht alle Patienten die Kopfhörer und Visualisierungsbrille wünschen. Wir setzen auf kleinere modulare Einheiten, die für ein angenehmes, kokonartiges Ambiente sorgen und damit eine gesundheitsförderliche Wirkung entfalten sollen. Entsprechend der Blickrichtung des Patienten ist die Raumdecke der wichtigste Teil, wenn es um eine erfolgreiche visuelle Gestaltung geht. Aber auch die Wände und Einrichtungsgegenstände, insbesondere ihre oberen Teile, haben Bedeutung. Hinzu kommt eine dämpfende farbige Lichtinstallation, die langsam die Farbe wechselt.
Bereits diese einfache Lösung übt auf viele Patienten einen beruhigenden Effekt aus. Beruhigende Musik kann hervorragend zur Abrundung beitragen, was das Wohlbefinden der Patienten weiter positiv beeinflusst. Momentan arbeiten wir an einem zweiten Prototypen einer solchen baulichen Einheit, um das Konzept weiterzuentwickeln. Der Stellenwert moderner Video- und Unterhaltungstechnik inklusive 3-D-Videotechnologie wird hier deutlich höher sein. Zudem wird das sogenannte Serious Gaming künftig eine wichtige Rolle spielen.
Was ist das?
Unter Serious Games versteht man speziell konzipierte digitale Spiele, die über den Unterhaltungswert hinaus einen konkreten, quasi höheren Zweck verfolgen. Zum Beispiel hat man bei Verbrennungsopfern dadurch nachweisbare Schmerzlinderungseffekte erzielen können. In unserem Zusammenhang geht es um die Vermeidung beziehungsweise im Wortsinn um die Überspielung von Angst und Stress. Dies geschieht, indem die Konzentration auf spielerische Inhalte gelenkt wird.
All diese Maßnahmen sind eingebettet in ein eigens entwickeltes Gesamtkonzept zur Stressreduzierung in Funktionsabteilungen, das dem AFRO-Projekt zugrunde liegt.
Können Sie dieses bitte beschreiben?
Sie sprechen einen wichtigen Punkt an: Die einzelnen Maßnahmen entfalten ihr volles Potenzial erst dann, wenn sie eingebettet sind in ein Gesamtkonzept. Nur während einer Operation einem regionalanästhesierten Patienten einen Film anzubieten ist ganz nett, die große Wirkung wird aber ausbleiben. Bei AFRO verfolgen wir eine Doppelstrategie: Das Anti-Stress-Programm soll einerseits negative Stressoren reduzieren und andererseits gleichzeitig positive Impulse vermitteln. AFRO zielt somit sowohl auf die Soll- als auch die Habenseite der menschlichen Empfindung.
Auf der Sollseite sind wir bemüht, negative Impulse zu vermeiden: Belastende Maßnahmen werden bis auf das unumgänglich Nötige reduziert und von außen kommende unangenehme Sinneseindrücke wie Lärm nach Möglichkeit vermieden. Von belastenden Gedanken, auch wenn sie von außen nicht oder kaum beeinflussbar sind, soll zudem abgelenkt werden.
Und auf der Haben-Seite?
Hier engagieren wir uns im positiven Bereich: Sicherheit und Geborgenheit werden durch plausible Erläuterungen und glaubwürdig vermittelte Verwechslungssicherheit ermöglicht. Darüber hinaus werden positiv wirkende Sinnesreize angeboten und selbstbestimmtes Handeln ermöglicht. Die Gedanken sollen zudem durch positiv besetzte Inhalte, einschließlich der Stellung von Aufgaben wie bei dem schon erwähnten Serious Gaming, beeinflusst werden, etwa im Rahmen eines Quiz oder eines Computerspiels.
Das Projekt AFRO ist vor sechs Jahren gestartet. Was war der Auslöser?
Das Projekt ist aus sehr intensiven Gesprächen mit Ärzten und Pflegepersonen heraus entstanden. Diese drehten sich um die Frage, wie wir die Prozessqualität für die Patienten spürbar steigern können, und dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass wir sehr viele Regionalanästhesien durchführen und dass Beruhigungsmittel hier nicht immer zur Verbesserung der Situation beitragen – jedenfalls nicht über ein bestimmtes Maß hinaus. Insofern war es notwendig, sich Gedanken über nicht-medikamentöse Strategien zu machen.
Welche Rolle spielen Pflegepersonen beim Projekt?
Pflegepersonen haben sich von Anfang an sehr engagiert und ehrlich gesagt viel früher als manche Ärzte die Sinnhaftigkeit des Projekts erkannt. Die pflegerischen Kollegen haben ihrerseits sehr viele Ideen eingebracht, zum Beispiel die Integration komplementärer Verfahren wie Klangschalen- und Aromatherapie, und damit erheblich dazu beigetragen, dass das Projekt im Laufe der Jahre immer runder wurde. Aktuell steht uns im Rahmen von AFRO ein Riesenhorizont an Maßnahmen - gerade auch aus pflegerischer Initiative - zur Verfügung, um viel Positives zu erreichen. Wichtig ist natürlich, dass die Mitarbeiter authentisch vorgehen, sonst ist das Ganze nichts wert.
Was meinen Sie mit authentisch?
Authentisch im Sinne von dem Patienten positiv zugewandt. Eine genervte Pflegeperson, die einem Patienten ein Entspannungsprogramm anbietet, ist nicht glaubhaft und wird nichts erreichen. Kein Patient wird sich so ernsthaft entspannt fühlen. Wichtig ist auch, dass die Pflegeperson von der Richtigkeit der Sache überzeugt ist. Tut sie es nur widerwillig, weil es von ihr verlangt wird, wird sie ebenfalls nichts erreichen. Denn auch das ist nicht glaubhaft.
Ein solches Projekt ist aufgrund des zusätzlichen Material- und Personalbedarfs nur mit zusätzlichen Kosten zu realisieren. Stehen diese im Verhältnis zum Nutzen?
Davon bin ich überzeugt, vor allem wenn man das Ganze unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit betrachtet. Es ist zu erwarten, dass sich die gezielte Berücksichtigung der psychischen Patientenbelange positiv auf den Behandlungsverlauf auswirkt. Dies belegen insbesondere auch internationale Studien der jüngsten Zeit. Es gibt Hinweise darauf, dass in bestimmten Zusammenhängen auch die Liegedauer günstig beeinflusst werden kann.
Eine unabhängige Arbeitsgruppe der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg untersuchte Teilbereiche von AFRO und kam zu dem Ergebnis, dass das Erreichen der Nutzenschwelle – der sogenannte Break-Even-Point – schon nach wenigen Jahren zu erwarten ist. Und darüber hinauskommen weitere positive Aspekte hinzu, wie Akquiseeffekte und Steigerung der Arbeitsplatzqualität - gerade heute ein nicht unwesentlicher Gesichtspunkt. Denn wir stellen bestimmte Angebote wie die Massagesessel, aber auch Klangschalen- und Aromatherapie – um nur einige Beispiele herauszugreifen – auch unseren Mitarbeitern im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements zur Verfügung.
Auch dies wurde übrigens wiederum von Seiten der Pflege und unter deren Regie initiiert. Insofern konnten wir hier wertvolle Synergieeffekte ausloten. Mehr Menschlichkeit im Klinikbetrieb ist also zweifellos nicht nur vom ethischen Standpunkt her geboten, sondern auch unter ökonomischen Gesichtspunkten gerechtfertigt und machbar.
Herr Dr. Sauer, viel Erfolg weiterhin für Ihr Projekt und vielen Dank für dieses Gespräch.