Seit Juni ist der Tarifvertrag zwischen der Charité – Universitäts-medizin Berlin und der Gewerkschaft Verdi wirksam. Er soll vor allem dazu beitragen, die personelle Ausstattung spürbar zu verbessern. Wir sprachen mit Charité-Pflegedirektorin Judith Heepe, wie das in der konkreten Umsetzung aussieht. Frau Heepe, bundesweit standen erstmals Arbeitsbedingungen im Fokus eines Tarifvertrags. Was sind Sie an der Charité diesbezüglich seit der Einigung mit Verdi angegangen? Schon während der Verhandlungen war klar, dass es zu einer Erhöhung der Pflegestellen kommen wird. Laut Vertrag müssen wir nun bis zum 1. Oktober fünf Prozent mehr Stellen in der stationären Pflege aufweisen, das entspricht rund 200 zusätzlichen Pflegestellen im Normal- und Intensivbereich. Aktuell haben wir fast 160 von diesen Stellen schon besetzen können. Es wird zwar knapp, aber ich bin zuversichtlich, dass wir bis zur Deadline auch noch für die übrigen Stellen geeignete Bewerber akquirieren können. Die zusätzlichen Pflegestellen entsprechen aber keiner festen Personalquote. Richtig, das war uns auch besonders wichtig, denn eine feste Pauschale entspräche nicht dem Arbeitsalltag. Einige Einheiten im Bereich der Normalpflege hätten zwar davon profitiert, andere wiederum nicht. So ist der pflegerische Aufwand auf einer onkologischen Station natürlich höher als etwa auf einer Augenstation. Wir haben uns bewusst für ein System eingesetzt, das sozusagen atmet. Das eigentliche Novum des Tarifvertrags besteht darin, dass sich die Zahl der neuen Pflegestellen an der tatsächlich erbrachten Leistung orientiert. Je mehr gearbeitet wird, desto mehr Personal muss eingestellt werden. Umgekehrt heißt das aber auch, dass Stellen reduziert werden, wenn es weniger pflegeaufwendige Patienten auf einer Station gibt. Wie ermitteln Sie den Leistungsaufwand? Im Normalpflegebereich haben wir die etwas angestaubte Pflegepersonalregelung wieder reaktiviert und um Sondertatbestände ergänzt, die sich aus Zusatzentgelten ableiten lassen wie dem Pflegekomplexmaßnahmen- oder Palliativ-Score. Wenn künftig ein Bereich besonders viele Fälle generiert hat, dann gibt es auch mehr Stellen. Um die exakten Pflegeaufwände bestimmen zu können, ist besonders das Controlling gefordert. Denn wir brauchen vor allem patientenbezogene Daten, um die Leistungen zu bemessen. Unsere Controller müssen also die einzelnen Patientenfälle bis in das kleinste Detail analysieren, damit sie später aussagekräftige Zahlen erhalten. Derzeit erfolgen Probeläufe mit diesen Controllingzahlen. Wir schauen, wo wir noch nachbessern müssen, damit zum Stichtag 1. Oktober die Bemessungskriterien greifen können. Ab dann erfolgt eine regelmäßige Betrachtung. Salopp gesagt versuchen wir derzeit, die unterschiedlichsten Aspekte in der Patientenversorgung in irgendein Bemessungstool zu bringen. Das ist schwierig, aber nicht unmöglich. Für den Zeitraum, den wir seit Unterzeichnung des Tarifvertrags bislang hatten, haben wir schon viel geschafft. Im Intensivbereich haben Sie sich im Mittel auf eine Mindestausstattung von einer Pflegefachperson für zwei Patienten geeinigt. Dabei haben Sie eine hausinterne Qualitätsrichtlinie angewendet. Was hat es damit auf sich? Genau, hierbei haben wir uns an dem System Inpuls des Universitätsklinikums Heidelberg orientiert. Dieses System schafft die Grundlage für eine systematische, standardisierte und insbesondere handhabbare Bestimmung der Pflegeaufwände auf einer Intensivstation. Einfach ausgedrückt schaut man – ähnlich wie bei den Normalstationen – auf die pflegerelevanten Aspekte und ermittelt die Pflegeminuten. Aus der Anzahl der Pflegeminuten plus einer Pauschale für Administration und Hilfstätigkeiten ergibt sich dann jene Minutenanzahl, die für die pflegerische Betreuung notwendig ist. Daraus wiederum lässt sich errechnen, wie viele Pflegende vonnöten sind, um die Versorgung der Patienten sicherzustellen. Inpuls kann aber nur dann zur Anwendung kommen, wenn man identische Pflegerichtlinien in den einzelnen Intensivbereichen hat. Um eine entsprechende Vergleichbarkeit sicherzustellen, haben wir deshalb die Implementierung von Inpuls zum Anlass genommen, unsere Qualitätsrichtlinien in der Intensivpflege anzupassen. Ist die Mindestausstattung bereits auf allen Intensivstationen der Charité umgesetzt? Derzeit testen wir das Inpuls-System auf drei Pilotstationen: in einem konservativen, einem chirurgischen und in einem Kinderintensivbereich. Dort eruieren wir derzeit, wo gegebenenfalls noch Modifizierungsbedarf besteht. Das läuft bislang schon sehr gut. Deshalb gehen wir davon aus, dass wir bis Ende dieses Jahres in allen Intensivbereichen der Charité das System implementiert haben werden. Dennoch gibt es nach wie vor Bereiche, für die wir noch Bemessungskriterien finden müssen. Welche Bereiche sind das? Dazu zählen die Rettungsstelle, die Dialyse und die Radiologie. Hier gibt es leider auf dem gesamten Markt noch kein geeignetes Bemessungstool. Wir brauchen aber auch hier aussagekräftige Daten, um den Bedarf an Pflegenden verlässlich bestimmen zu können. Deshalb werden wir in diesen Bereichen mit Unterstützung eines externen Anbieters arbeiten. Eine Mehrzahl der vereinbarten zusätzlichen Pflegestellen haben Sie schon besetzen können. Wie ist Ihnen das in so kurzer Zeit gelungen? Wie haben sehr an unserem Bewerbermanagement gefeilt, es zentralisiert und die Vorgänge verschlankt. Das war nötig, um überhaupt Mitarbeiter gewinnen zu können. Mittlerweile gelingt es uns, innerhalb von 24 Stunden auf Bewerbungen zu antworten, zuvor dauerte das bis zu zwei Wochen. Das war sicherlich mit ein Grund, warum einige Bewerber zur Konkurrenz gegangen sind. Insgesamt hat sich nun auch die Bewerberzahl dank der Prozessanpassungen deutlich erhöht. Wie bewerten Sie insgesamt den Tarifvertrag? Das Verständnis für mehr Pflegestellen war seitens der Charité-Leitung bei den aktuellen Tarifverhandlungen von Anfang an da. Dennoch wäre es nach wie vor wünschenswert, wenn bestimmte Mindestwerte bundeseinheitlich geregelt würden. Das nicht zuletzt deshalb, um etwaige Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden, wenn jetzt nur ein Haus diese höhere Personalbesetzung ermöglicht – denn die ausreichende Finanzierung der zusätzlichen Zahl an Pflegenden obliegt der Charité. Weder die Gesundheitspolitiker auf Bundes- und Landesebene noch die Krankenkassen sehen sich hier in der Pflicht. Deshalb war es durchaus eine kluge Strategie, an dem größten Universitätsklinikum in Deutschland das Thema Arbeitsbedingungen für einen Tarifvertrag aufzugreifen. Die Aufmerksamkeit war bundesweit entsprechend groß. Gleichzeitig hat Verdi damit unter den Beschäftigten für eine recht hohe Erwartungshaltung gesorgt. Inwiefern? Fast jeder Pflegende ist davon ausgegangen, jede Einheit würde vier bis fünf Stellen mehr bekommen. Die Charité hat etwa 180 Einheiten, fast 200 Stellen gibt es zusätzlich. Das ist zwar eine große Entlastung, aber es bedeutet nicht, dass jeder Bereich auch zusätzlich mehr Personal bekommt. Eine etwaige Enttäuschung in den einzelnen Teams galt es deshalb frühzeitig mit entsprechenden Informationen abzufangen. Die Umsetzung der Vereinbarungen stößt deutschlandweit auf großes Interesse. Welche Resonanz erhalten Sie von anderen Häusern? Uns liegen Anfragen aus beinahe allen Häusern vor. Vor allem Arbeitgebervertreter wollen wissen, wie wir den Vertrag konkret umsetzen. Das ganze Konstrukt des Vertrags ist in erster Linie abhängig von einer beständigen Kommunikation zwischen beiden Seiten. Das es auch mal schwierigere Phasen gibt, gehört zum Geschäft, von der Sache her begegnen sich aber alle Gesprächspartner mit Respekt. Dennoch ist die Umsetzung natürlich auch ein lernender und sich noch weiterentwickelnder Prozess, besonders da wir als erste an den Start gegangen sind mit einem solchen Vertrag. Herzlichen Dank für das Gespräch, Frau Heepe.