Opposition und Verbände haben mit Kritik auf die ersten Konkretisierungen zur Pflegereform aus dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) reagiert. Das hatte gestern Nachmittag zur Pressekonferenz eingeladen, um über „die Vorstellungen des BMG zur Pflegereform“ zu informieren, nachdem die „Berliner Zeitung“ am Morgen vorab aus dem „Arbeitsentwurf“ zitiert hatte. Der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag Jens Spahn (CDU) kündigte ebenfalls am Nachmittag einen „Gesetzentwurf“ für die kommende Woche an. In Kraft treten soll diese zum 1. Januar 2013, parallel zur Anhebung des Beitrags zur Pflegeversicherung um 0,1 Prozentpunkte.
Vorstellen kann sich Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) laut dem Entwurf eine Anhebung der Pflegesachleistungen für Menschen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz in den Pflegestufen I und II um 215 auf 665 Euro respektive 150 Euro auf dann 1.250 Euro. Das Pflegegeld soll in Stufe I um 70 Euro auf 305 Euro, in Stufe II um 85 Euro auf 525 Euro steigen. Für Demenzkranke in der sogenannten Pflegestufe 0 sieht der Entwurf unverändert zum Status quo Pflegesachleistungen in Höhe von 50 Prozent der Stufe I, also 225 Euro pro Monat, vor oder ein Pflegegeld von 120 Euro.
Zudem sollen Pflegebedürftige in einer selbstorganisierten Wohngruppe eine Pauschale von 200 Euro monatlich erhalten. Um die Gründung solcher Wohngruppen zu fördern, plant Bahr ein Programm, aus dem der erforderliche Umbau der Wohnung mit 2.500 Euro pro Bewohner, pro Gruppe aber mit maximal 10.000 Euro unterstützt werden soll. Ebenfalls im Entwurf enthalten sind die bereits in den im vergangenen Dezember beschlossenen Eckpunkten zur Reform vereinbarten erweiterten Wahlmöglichkeiten für Pflegebedürftige und Angehörige. Diese können so statt komplexer Leistungen auch Zeitkontingente mit den Pflegediensten vereinbaren. Weiter sollen Pflegebedürftige und Angehörige im Begutachtungsprozess sowie bei der Beantragung und Inanspruchnahme von Reha-Leistungen gestärkt werden.
Für den Pflegebeirat, der die Details zur Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes ausarbeiten soll, werden der Patientenbeauftragte der Bundesregierung Wolfgang Zöller (CSU) und der ehemalige Vorstand des Spitzenverbandes der Gesetzlichen Krankenversicherung Karl-Dieter Voß als Vorsitzende benannt. Einen Zeitrahmen will Bahr für die Arbeit des Beirats offenbar nicht vorgeben.
Die Opposition zeigte sich enttäuscht von den Konkretisierungen aus dem BMG. „Das ist ein typischer FDP-Ansatz: Die Betroffenen bekommen mehr Geld und müssen sich dann selbst kümmern“, sagte die Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Bundestag Carola Reimann (SPD) der Nachrichtenagentur dpa. Sie plädierte stattdessen für die Förderung neuer Angebote. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach und der rheinland-pfälzischen Gesundheitsministerin Malu Dreyer (beide SPD) gehen die Pläne Bahrs nicht weit genug. Beide forderten eine umfassende Reform der Pflegeversicherung. Zwar seien die angekündigten Neuregelungen besser als nichts, „gleichwohl bleibt es trotzdem dabei, dass das nur eine Krücke ist“, sagte Dreyer in Mainz. Auch die pflegepolitische Sprecherin der Grünen Elisabeth Scharfenberg nannte die beabsichtigten Veränderungen völlig unzureichend. „Die Pflegereform von Schwarz-Gelb wird immer peinlicher.“ Die notwendige Reform des Pflegebegriffs werde auf unbestimmte Zeit verschoben und eine solide und nachhaltige Finanzierung sei mit der geplanten Beitragserhöhung nicht möglich. „Diese Reform ist mit diesen Laiendarstellern einfach nicht zu retten.“
Weitere Kritik kam vom Deutschen Pflegerat, dessen Präsident der Koalition Scheitern vorwarf. „Die Versorgung wird so nicht demografiefest“, sagte er der dpa in Berlin. Für eine ernsthafte Reform brauche es eine Summe von drei bis fünf Milliarden Euro. Kritik am Finanzierungskonzept übte auch Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt. „Es ist unverantwortlich, zusätzliche Leistungen anzubieten, ohne die Frage ihrer dauerhaften Finanzierung beantworten zu können. So darf keine Pflegereform angegangen werden“, sagte er der „Welt“. Seiner Auffassung nach bräuchte es angesichts eines Gesamtvolumens der Pflegeversicherung von jährlich rund 20 Milliarden Euro allerdings überhaupt keine zusätzlichen Mittel, um die Versorgung von Demenzkranken zu verbessern. Dies ließe sich „auch über Strukturreformen und Umschichtungen“ und einen effizienteren „Einsatz der Mittel, vor allem durch mehr Wettbewerb“, erreichen.
Deutlich in ihrer Kritik war auch die Vorsitzende des Deutschen Evangelischen Verbandes für Altenarbeit und Pflege Renate Gamp. „Das gesamte vergangene Jahr ist vergeudet worden mit Pflegedialogen, mit Debatten über den Pflegebeirat, mit gegenseitigen Anschuldigungen, mit Ministerwechsel“, sagte sie über das von Bahrs Amtsvorgänger Philipp Rösler (FDP) ausgerufene Jahr der Pflege und erklärte es „zum Unwort für die Branche“. „Unsere Mitglieder verlieren das Vertrauen in das, was in Berlin passiert“, so Gamp.