Pflegeverbände, Krankenkassen und Kirchen haben die gestrige Anhörung im Bundesgesundheitsministerium (BMG) zum aktuellen Referentenentwurf für die Pflegereform genutzt, um noch einmal deutliche Kritik zu üben. Kernpunkte waren dabei erwartungsgemäß der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff, die Finanzierung der Pflegeversicherung und die Arbeits- und Rahmenbedingungen in der professionellen Pflege. Der Arbeitgeberverband Pflege forderte 2012 zum „Jahr der Pflegenden Hände“ zu machen.
„Es ist zutiefst enttäuschend und gegenüber den pflegebedürftigen Menschen nicht mehr zu vertreten, dass das BMG sich erneut nicht zu einer grundlegenden Reform durchringen kann“, sagte der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe Franz Wagner. Die Versuche, die Versorgung von Menschen mit kognitiven Störungen zu verbessern, seien minimal und beinhalteten eine Trennung von Betreuung und Pflege, von Pflegekräften ohne Qualifizierung und Fachkräften, die sich fatal auswirken werde. Zudem werde die stationäre Altenhilfe beinahe vollständig ausgeblendet. Ein Gesamtkonzept für die Versorgung oder qualitätssichernde Ansätze seien im vorliegenden Entwurf für das Pflege-Neuausrichtungsgesetz (PNG) nicht erkennbar. „Insgesamt kapituliert das BMG damit vor den Herausforderungen“, so Wagner.
Der Präsident des Deutschen Pflegerats Andreas Westerfellhaus forderte eine Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs noch in dieser Legislaturperiode. „Wir können darauf nicht mehr warten“, sagte er der Nachrichtenagentur dpa und verlangte umgehende Klärung, was der wachsenden Zahl an kranken und pflegebedürftigen Menschen geboten werden könne, wie diese Leistungen finanziert würden und in welcher Struktur dies alles geschehe. Dem schloss sich auch der Bundesverband der Betriebskrankenkassen an. Geschäftsführer Heinz Kaltenbach nannte es bedauerlich, dass der für eine tatsächliche Besserstellung von Demenzkranken dringend notwendige Pflegebedürftigkeitsbegriff noch immer nicht umgesetzt werde, obwohl die Vorarbeiten längst abgeschlossen seien. Er forderte einen verbindlichen Zeitplan. „Die Einführung stattdessen weiter auf unbestimmte Zeit zu verschieben, kann keine Option sein.“
Tragfähige Antworten bleibe der Entwurf für das PNG zudem auch auf die Frage der zukünftigen Finanzierung der Pflegeversicherung schuldig. Dass die geplante Anhebung des Beitragssatzes um 0,1 Prozentpunkte die bevorstehenden Mehrausgaben nicht über das Jahr 2013 hinaus ausgleichen werden, sei ebenso absehbar wie das Unvermögen der angekündigten steuerlichen Förderung von privaten Pflegezusatzversicherungen, die Pflegeversicherung insgesamt langfristig zu stabilisieren. Der BKK-Bundesverband forderte deshalb gestern eine gesetzliche Lösung für eine zukunftsfähige, nachhaltige, solidarische und paritätische Finanzierung.
Auch Diakonie und Caritas hielten mit ihrer Kritik nicht hinter dem Berg. „Die großen Probleme der Pflegeversicherung – die Umsetzung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs, die dringend zu verbessernden Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte und Einrichtungen sowie die nachhaltige solidarische Finanzierung – werden weiter ausgeklammert“, sagte Maria Loheide, sozialpolitischer Vorstand des Diakonischen Werks der deutschen Evangelischen Kirche. Zwar begrüßte sie die Verbesserungen für Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz im ambulanten Bereich, bemängelte aber zugleich fehlende Maßnahmen in der stationären Versorgung. Hier bestehe Nachbesserungsbedarf. Caritas-Präsident Peter Neher forderte ebenfalls die Umsetzung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes noch vor Ablauf der Legislaturperiode. Die Reform bleibe „auf halbem Weg stecken, wenn nicht endlich die spezifischen Bedarfe von Demenzkranken bei der Einstufung“ berücksichtigt würden.
Das positivste Feedback zum Referentenentwurf kam vom Arbeitgeberverband Pflege, dessen Präsident Thomas Greiner ausdrücklich die Verbesserungen für Demenzkranke im häuslichen Bereich lobte und auch keine Mängel im stationären Bereich ausmachen wollte. „In den Pflegeheimen ist über die Jahre erheblich in die Qualität von Pflege und Betreuung demenziell erkrankter Menschen investiert worden“, so Greiner. Nun werde der häusliche Bereich Fortschritte machen. Auch die Finanzierungsfragen sieht der Arbeitgeber-Chef weniger kritisch. Angesichts der fast 22 Milliarden Euro, die zurzeit durch die Pflegeversicherung finanziert würden, sei die Erhöhung um 1,1 Milliarden Euro durch die Beitragsanhebung keine Kleinigkeit. „Wenn das Gesetz Anfang 2013 in Kraft tritt, wird das ein guter Tag für alle Betroffenen sein“, sagte Greiner.
Einen eklatanten Makel im PNG-Entwurf stellte aber auch der Arbeitgeberverband fest: Das brennendste Problem, die Gewinnung zusätzlicher Fachkräfte, werde überhaupt nicht berücksichtigt. „Zusätzliches Geld nützt uns nur wenig, wenn im Alltag die helfenden Hände fehlen“, sagte Greiner und forderte Politik, Arbeitgeber und Gewerkschaften auf, in diesem Jahr die Fachkräfte in den Mittelpunkt aller Bemühungen zu stellen. „2012 muss zum Jahr der ‚pflegenden Hände‘ werden.“ Dazu gehörten die Abkehr von absurden Schulgeldzahlungen in der Altenpflegeausbildung und die Einführung einer Umlagefinanzierung aller Arbeitgeber, bessere Möglichkeiten zur Fortbildung langjähriger Hilfskräfte zu Fachkräften sowie die zügige Anerkennung ausländischer Abschlüsse und eine qualifizierte Zuwanderung von Fachkräften aus EU- und Nicht-EU-Staaten.