Deutschlands Gesundheitsökonomen haben in der laufenden Debatte um die Zukunft der Praxisgebühr gegen eine Abschaffung der bei Ärzten und Patienten unbeliebten Abgabe plädiert. In einer gestern veröffentlichten Stellungnahme sprach sich der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Gesundheitsökonomie (dggö), dem auch der Bremer Professor für Medizinmanagement Jürgen Wasem angehört, stattdessen für eine Ausweitung der Gebühr auf jeden Arztbesuch bei einer gleichzeitigen Absenkung des Betrags auf fünf statt bislang zehn Euro aus. Ergänzend könne hingegen die Zuzahlung gesetzlich Versicherter für die ersten 28 Tage eines Krankenhausaufenthalts gestrichen werden. Insgesamt belaste dies die Versicherten zwar zunächst höher als bisher, dafür könne aber der stete Beitragsanstieg für die Krankenversicherung eingedämmt werden.
Dass die Praxisgebühr den erwünschten Steuerungseffekt, nämlich die Zahl der Arztbesuche zu reduzieren, verfehlt hätte, erkläre sich durch ihre Fälligkeit beim jeweils ersten Arztbesuch im Quartal. Damit Zuzahlungen ihre Funktion erfüllen und Kostenbewusstsein stärken und Anreize zum Verzicht auf unnötige Leistungen geben könnten, dürften sie „nicht einfach die Krankenkassen entlasten“, sondern müssten das Verhalten der Versicherten in Richtung Sparsamkeit steuern. Entsprechend sollten sie dort erhoben werden, wo die Patienten tatsächlich selbst darüber entscheiden könnten, ob sie eine Leistung in Anspruch nehmen. Dies sei aber nicht nur beim ersten Arztbesuch in einem Quartal, sondern grundsätzlich bei jedem Arztkontakt der Fall. Hingegen liege die Entscheidung über die stationäre Aufnahme eines Versicherten meist in den Händen der Ärzte. Hier mache die bislang erhobene Zuzahlung für die ersten 28 Behandlungstage somit keinerlei Sinn, sondern belaste Schwerkranke ohne jegliche Steuerungswirkung zu entfalten.
2010 hätte die Zuzahlung im Krankenhaus Patienten insgesamt 700 Millionen Euro gekostet. Durch die Praxisgebühr bei niedergelassenen Ärzten hätten die Krankenkassen 1,5 Milliarden Euro, durch die Gebühr bei Zahnärzten 400 Millionen Euro eingenommen. Dies stehe jedoch „in keinem günstigen Verhältnis“ zu der verfehlten Steuerungswirkung und dem Aufwand, der entstehe, wenn festgestellt werden müsse, ob ein Arztbesuch der erste im Quartal sei, oder wenn Überweisungen ausgestellt würden. „Sinnvoll wäre daher die Erhebung der Gebühr bei jedem Arztbesuch (mit den schon bestehenden ausnahmen der Vorsorgeuntersuchungen und der Behandlung von Kindern), wodurch der Verwaltungsaufwand sogar sinken würde, weil die beschriebenen Prüfungen wegfallen könnten“, heißt es in der Stellungnahme.
Die vorgeschlagene Ausweitung der Praxisgebühr bei gleichzeitiger Streichung der Zuzahlung im Krankenhaus würde nach der Kalkulation der Gesundheitsökonomen zu einer Mehrbelastung der Versicherten um geschätzte 0,2 Milliarden Euro führen. Demgegenüber stünde jedoch ein größerer Steuerungseffekt und in der Folge eine Dämpfung des Beitragssatzanstiegs.
Hessens Sozialminister Grüttner (CDU) erteilte den Plänen der dggö gestern umgehend eine Absage. Er forderte erneut die vollständige Abschaffung der Praxisgebühr. Eine Ausweitung auf alle Arztbesuche „wäre ökonomisch sinnlos, sozial ungerecht und mit noch mehr bürokratischem Aufwand für Ärztinnen und Ärzte behaftet“, sagte er in Wiesbaden. Auch der Vizechef der Unionsfraktion im Bundestag Johannes Singhammer (CSU) lehnte die Pläne der Wissenschaftler ab, sprach sich anders als Grüttner für die Beibehaltung der Praxisgebühr aus, deren Unwirksamkeit für ihn nicht bewiesen ist. Auch die FDP hält nichts von den Vorschlägen der Gesundheitsökonomen. Bundesgesundheitsminister Bahr (FDP) gehört zu den Befürwortern einer ersatzlosen Streichung der Praxisgebühr.