Der Pflegemangel in deutschen Krankenhäusern könnte weit weniger gravierend sein, als bislang angenommen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung, die die Techniker Krankenkasse (TK) in Auftrag gegeben hatte. Laut den Berechnungen der Autoren, darunter Gesundheitsökonom Boris Augurzky, ist die Zahl der Pflegekräfte pro pflegerelevanter Leistungsmenge zwischen 2002 und 2014 um nur 3,6 Prozent zurückgegangen. Hochgerechnet auf etwa 320 000 Vollkräfte in Krankenhäusern würde das bedeuten, dass „nur" gut 10 000 Pflegekräfte in Kliniken fehlen.
„Derzeit kann auf Basis der vorliegenden Analysen kein akuter Handlungsbedarf in Bezug auf die Menge an Pflegedienst im Krankenhaus abgeleitet werden", schreiben die Studien-Autoren in einem Fachartikel, der in den Juni-Ausgaben der Fachzeitschriften f&w – führen und wirtschaften im Krankenhaus sowie Die Schwester/Der Pfleger aus dem Bibliomed-Verlag erscheinen wird. Abonnenten der Portale BibliomedManager und Station24 können den Artikel bereits >> jetzt online lesen (Abo-Bereich).
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Perspektivisch ist aber laut den Autoren damit zu rechnen, dass der künftig wachsende Bedarf an Pflegefachkräften am Arbeitsmarkt nicht ohne Weiteres gedeckt werden kann – zumal auch die Altenpflege einen massiven Mehrbedarf in der Zukunft aufweisen wird."
Grundlage der Studie sind Makro- und Mikrodaten des Statistischen Bundesamts sowie andere Datenquellen. Aufgrund fehlender belastbarer Daten konnten jedoch nicht alle Faktoren gemessen werden, die den Pflegeaufwand im Krankenhaus beschreiben, etwa die Fluktuation der Pflegekräfte, das sich wandelnde Aufgabenspektrum der Pflege oder der Grad der Digitalisierung.
Für Studienverfasser Augurzky sind „unflexible Personalschlüsselvorgaben" der falsche Weg, die bestehenden Probleme zu lösen. Er plädiert stattdessen (Abo-Bereich) für sektorenübergreifende Versorgungskonzepte. „Wir könnten mehr Pflegekräfte einstellen – die wir im Moment gar nicht haben – oder wir könnten weniger stationäre Patienten anstreben." Im Moment arbeiteten die Kliniken „wie am Fließband und schleusen unheimlich viele Patienten durch. Wie schön wäre es, dieses Fließband etwas langsamer laufen zu lassen".
Der Vorstand der Techniker-Krankenkasse, Thomas Ballast, zeigt sich im Gespräch mit Bibliomed überrascht von den Ergebnissen der Studie. „Unsere Erwartung an das Gutachten war eher, das Ausmaß des Mangels festzustellen und nicht den Mangel an sich infrage zu stellen." Das Gutachten zeige, „dass es noch Forschungsbedarf in der Frage gibt, wie viel Personal mit welcher Qualifikation wir für Pflege im Krankenhaus brauchen". Ballast zeigt sich zudem offen für den Vorschlag der Autoren, selektive Qualitätsverträge auch für die Pflege abzuschließen. Voraussetzung sei es jedoch, ein „gemeinsames Verständnis von guter Pflegequalität" herzustellen und dies transparent nachvollziehen zu können.
Scharfe Kritik an dem Gutachten äußert unterdessen der Pflegeforscher Frank Weidner. „Das vorliegende RWI-Gutachten zur Zukunft der Pflege im Krankenhaus hat erhebliche Schwächen. Es greift bezüglich der Veränderung der pflegerelevanten Leistungsmenge im Krankenhaus viel zu kurz", kommentiert der Direktor des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung e. V. (dip) die Studie (Abo-Bereich). Die Autoren ließen „praktisch sämtliche Aspekte außen vor, die seit Einführung der DRG über die wenigen betrachteten Faktoren hinaus nachweislich Einfluss genommen haben auf den Wandel der Arbeitswelt im Krankenhaus".
Methodische Kritik äußert auch Franz Wagner, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe (DBfK) und Vize-Präsident des Deutschen Pflegerats (DPR). „Wie der Autor ausführt, gibt es kaum Pflegeindikatoren. Outcomes, die erfasst werden, rücken prioritär in den Fokus des Managements und der Pflegepraxis. Die großen Probleme der Unterversorgung oder Patientengefährdung liegen daher in anderen Bereichen."